Karneval in Moskau

Ein ganzes Land steht kopf: Nach dem Sieg gegen Spanien im Elfmeterschießen ist Gastgeber Russland weiter im Turnier dabei – und manche träumen schon vom Titel

Als wäre man schon Weltmeister – mancher russische Fan fühlte sich nach dem Achtelfinalsieg wie Superman Foto: Gleb Garanich/reuters

Aus MoskauAndreas Rüttenauer

Am frühen Sonntagmorgen in Chovrino, einem Stadtteil ganz im Norden Moskaus, da war es erst einer, der rief. „Rossija, Rossija!“, schallte es durch die Häuserschluchten. Der Rausch des Vortags lag noch auf der Stimme des Fans. Doch alle, die dem Mann begegneten, schenkten ihm ein Lächeln. Am Sonntagabend war es dann die ganze Stadt, die „Rossija, Rossija!“ rief. Es wurde gesungen, getanzt, gehupt, geschrien, gelacht, gesoffen und ganz viel geknutscht. Karneval in Moskau, so etwas hatte es noch nie gegeben!

Russland steht im Viertelfinale der Weltmeisterschaft, und ein ganzes Land steht kopf. Nur einer nicht. Trainer Stanislaw Tschertschessow gab den Coolen nach dem Sieg im Elfmeterschießen gegen Spanien. „Wir müssen unsere Emotionen aufsparen. Das Turnier beginnt doch erst“, sagte er.

Es geht weiter für die Russen. Wie, das wissen sie selbst nicht so genau. So wie sie nicht so recht wussten, wie sie es ins Elfmeterschießen dieses Achtelfinals geschafft hatten. „Mit Gottes Hilfe“, sagte Tscher­tsches­sow. Und auch Artjom Dsjuba, der das Tor zum 1:1 schoss, betonte überirdischen Beistand: „Der Fußballgott war auf unserer Seite.“

Es war eine Abwehrschlacht gewesen, wie man sie lange nicht gesehen hatte. Und sie hatte etwas Ansteckendes. Die meisten der fast 80.000 Zuschauer im Luschniki-Stadion von Moskau hatten ihren Spaß. Wann ist zum letzten Mal ein Befreiungsschlag so laut bejubelt worden, dass es sich anhörte, als sei ein Tor gefallen?

Die russische Mannschaft wehrte sich mehr wacker als begabt gegen die spanischen Ballmonopolisierer, während sich das Publikum in einen Rausch steigerte. „Rossija!“, riefen sie. „Molodzy!“ und „Muschiki!“. „Supertypen!“, „Kerle!“.

Tschertschessow sagte dazu: „Kerle, was heißt schon Kerle? Das sind Männer!“ Wer mitfeiern wollte in dieser magischen Nacht von Moskau, der musste sich auch auf eine große Macho-Show einlassen. Und die soll weitergehen. „Die Vorbereitung auf das Spiel gegen die Kroaten hat begonnen“, sagte Tscher­tsches­sow, der sich wieder etwas einfallen lassen will.

So wie er es gegen Spanien getan hat. Er hat mit drei Innenverteidigern gespielt, um den Spaniern den Zutritt zum Strafraum möglichst zu verwehren. Dafür hat er den besten Spieler seines Teams draußen gelassen. Ausgerechnet Denis Cheryschew, der in Spanien aufgewachsen ist, bei Real Madrid ausgebildet wurde und bei Villareal spielt, musste draußen bleiben. Wer die Aufstellung sah, der wusste, was da kommen würde.

Die Verteidigungsschlacht wurde gewonnen. Ein weiteres Mal bei dieser WM ist der Ballbesitzfußball mit wehenden Fahnen untergegangen. Wie kann es sein, dass er so einfach entschlüsselt worden ist? Die Russen jedenfalls haben etwas zu bieten, was es im modernen Fußball bisher noch nicht gegeben hat. Noch nie sind derartige Athleten bei einer WM aufgetreten. In der Leichtathletik darf Russland nach all den Dopingenthüllungen der vergangenen Jahre noch immer kein Team zu internationalen Wettkämpfen schicken. Im Fußball läuft dafür eine wahre Leichtathletiktruppe auf. Wie in den vergangenen Spielen hat es den Russen bis zum Ende nichts ausgemacht, mehr und schneller zu laufen als die Spanier.

Immer wenn der Ball nach vorne geschlagen wurde, hämmerten die russischen Angreifer in einem irren Rhythmus ihre Beine auf den Boden. Die Athletik besiegte den Ballbesitzfußball

Immer wenn der Ball nach vorne geschlagen wurde, hämmerten die russischen Angreifer in einem irren Rhythmus ihre Beine auf den Rasen. Und ab ging die Post vor allem für Alexandr Golovin, der 60 Mal zu Sprints ansetzte. Mit dieser Tempoausdauer ist es auch möglich, die ballsichersten Gegner 120 Minuten lang anzulaufen und ihre besten Spieler wie Spielmacher Isco immer zu doppeln. Der Ballbesitzfußball ist also entschlüsselt. Die Athletik hat ihn besiegt.

Dass es in diesem irren Tempo weitergehen kann, will niemand so recht glauben. Das Misstrauen läuft immer mit und so kursieren Bilder im Netz, die Nadeleinstiche an den Armen von Artjom Dzjuba und Daler Kuzjajew zeigen sollen. Und die Frage steht im Raum, welchen Inhalt das Fläschchen hatte, an dem Wladimir Granat vor seiner Einwechslung schnüffelte.

Gegen Kroatien am kommenden Samstag in Sotschi wird man sehen, wie weit die russischen Beine tragen werden, ob das russische Wunder weitergeht, das vor allem ein Laufwunder ist.

Wunderbar ist aber auch die Geschichte des Helden dieses Abends. Torwart Igor Akinfejew hatte schon während des Spiels dafür gesorgt, dass seine Russen im Spiel blieben. Dann hielt er zwei Elfmeter. Und wie! Wer ist noch mal der bekannteste russische Fußballer aller Zeiten? Genau: Lew Jaschin, ein Torwart. Und hat nicht er mit der UdSSR sogar mal einen Titel gewonnen? 1960 wurde Jaschin Europameister. Man wird ja wohl noch mal träumen dürfen. Feiern sowieso.