Kreisen um Verästelungen

Nachruf. US-Philosoph und Harvardprofessor Stanley Cavell ist 91-jährig in Boston gestorben

Stanley Cavell Foto: diaphanes

Von Ekkehard Knörer

Stanley Cavell war ein Philosoph mit einer faszinierenden Stimme als Autor. Das ist seltener, als man denkt, schon gar in der analytischen Philosophie, aus der er kam. Er ist ein Philosoph ohne Jargon, aber einfach zu lesen ist er trotzdem ganz sicher nicht. Was seine Texte auszeichnet, ist vielmehr eine große Vertracktheit, ist der Wille, den verhandelten Gegenständen und Gedanken kreisend, stockend, vorwärts und rückwärts und seitwärts in die letzten Verästelungen zu folgen, sich den Resonanzen auszusetzen, die sie im Philosophen erzeugen. So werden die Sätze oft lang, kompliziert, sind reich an Einschüben und Nebengedanken, es schreibt, denkt, spricht immer ein Ich, das offen ist für das, was ihm auf der Szene des Denkens widerfährt. (Und dass da so oft wirklich ein Ich, und auch noch von sich, spricht, ist ungewöhnlich genug.)

Cavell war der Sohn aus Polen eingewanderter Juden, die bei der Einwanderung den Namen Goldstein annahmen, er wuchs in Sacramento und Atlanta auf, die Mutter war Pianistin, sein Vater – darüber schreibt er ausführlich in seiner Autobiografie – hat ihn gehasst. Cavell gab sich mit 17 diesen eigenen Namen, in Anlehnung an die Kavelieruskiis, seine Vorfahren in Polen. Er wollte Musiker werden, hat komponiert, aber die Einsicht, dass er der Welt auf diesem Gebiet nichts von Bedeutung zu geben habe, hat zu einer – im Nachhinein: rettenden – Lebenskrise geführt. Da hörte er den eigentlich in Oxford lehrenden Philosophen John L. Austin, einen Wittgenstein-Schüler, der vorführte, was es heißt, über die Sprache nicht von der logischen Norm her, sondern in ihrem Gebrauch nachzudenken.

So ein Philosoph wurde auch Stanley Cavell. Er war dabei in der Wahl seiner Bezugspunkte und Gewährsleute so eigen wie in den Dingen, über die er schrieb. Mit Wittgenstein und Austin blieb er lebenslang im philosophischen Gespräch, aber ihm war Shakespeare als Denker nicht weniger wichtig als, und darauf wären die Kollegen im Ernst noch viel weniger gekommen, Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau. Deren Glauben daran, dass der Mensch immer mehr sein kann (und will), als er ist, hat Cavell als tiefen philosophischen Gedanken lesbar gemacht. Darüber hinaus holte er ohne jede Berührungsangst nicht nur die Poststrukturalisten, zu denen er eine große Affinität hatte, ins Gespräch, sondern auch den klassischen Hollywood-Film, die Screwball-Komödien vor allem. In den von ihm als „Komödien der Wiederverheiratung“ bezeichneten Werken sah er weitreichende Analysen der Frage, was es heißt, den anderen und die andere zu akzeptieren als die, die sie sind.

Im Kern von Cavells ­Denken geht es immer um den Bezug des Einzelnen zur Welt und zur Mitwelt: keine Erkenntnis­theorie, sondern eine Existenzphilosophie. Die Frage, wie es sein kann, dass wir an der Möglichkeit dieses Bezugs grundsätzlich zweifeln, die Frage der Skepsis, hat ihn immer beschäftigt. Seine Philosophie ist keine Philosophie, die Antworten gibt und zu Ergebnissen kommt, sondern eine, die sich dem Denken aussetzt, der die Bewegung des Denkens in der Sprache wesentlich ist. Cavell liebte den Jazz, mit Jazz hat man sein Denken verglichen. Der Philosoph Richard Rorty schrieb in einer Rezension über Cavell: „Er hat sich als Person weiter vorgewagt als wir alle. Wer dieses Buch berührt, berührt einen leiblichen, ehrgeizigen, bangen, mit sich selbst beschäftigten, sich selbst bezweifelnden Sterblichen.“ Philosophen können ganz anders sein, aber so war Cavell. Er ist jetzt mit 91 Jahren gestorben.