Die Form der Zukunft

Hightech, Ökologie und Futurismus: Die Entwürfe für den Frühling/Sommer 2019 bei der Berliner Fashion Week zeugten von großer Experimentierlust und ambitionierter Formensprache

Natur und Zen gab’s bei Designer William Fan Foto: F. Kern/Geisler Fotopress/picture alliance

Von Marina Razumovskaya

Da stimmte alles. Im E-Werk, dem Hauptort der gerade zu Ende gegangenen Berliner Fashion Week, laufen zu einer Musik wie von Kraftwerk die Zukunftsmenschen: in leuch­tenden, kräftigen Farben, in Kleidern aus klaren Schnitten, zusammengesetzt aus einfachen Stofflagen, die Jacke vorn schwarz, hinten knallrotes oder knallgelbes Neopren. Auf allen Kleidungsstücken aber sind seltsame Beschriftungen zu lesen, nicht Labelnamen, sondern: „Mantel“, oder auf den Ärmeln „r“ und „l“ oder der Name des Models.

Der Chefdesigner von Ivanman, der gebürtige Serbe Ivan Mandzukic, sieht weit in die Zukunft der Mode. „Customizing“ heißt sie, das ist: Anpassung eines Serienprodukts an die Bedürfnisse eines Kunden. Jeder stellt sich heute sein Auto, seine Wohnung, sein Mittagsmenü zusammen, indem sie/er sich durch Menüs clickt. Die Zukunft der Mode als Baukasten? Menükleider?

Future heißt eine Tendenz der gerade zu Ende gegangenen Fashion Week, die den Sommer 2019 vorstellte. Auch die eher traditionelle Luxusmarke MCM aus München, die im Berliner Modesalon die erste Kollektion unter einem neuen Chefdesigner vorstellte, folgte dieser Tendenz. Zukunft ist hier weit draußen: kosmonautisch oder outdoor. Overalls, veränderbare Cargohosen und Jacken mit Reißverschlüssen, die in ultraleichten Hightech-Stoffen und grellen Neonfarben gestaltet sind. Die Lust am Experimentieren mit neuen, futuristischen Hightech-Materialien scheint unzähmbar. Auch Marina Hörmannseder entwirft Outfits aus durchsichtigem Plastik oder technisch sehr aufwendig präpariertem Leder.

Die andere Zukunft, wie sie sich vor allem im Berliner Modesalon, einem Highlight jeder Fashion Week, artikulierte, besteht in einer neuen Auffassung von Ökologie, und zwar im Segment Luxus. Man arbeitet mit edelster Baumwolle und Leinen, bei „Working Titles“ etwa mit Reihen wellenartiger Kanten und kleinen Fortsätzen aus Organza, die Swarowski-Kristalle einschließen. Bei William Fan gibt es kleine Taschen wie Körbchen mit einer seltsamen Oberfläche. Es ist Jute, die gute alte Jute, aber so fein verarbeitet, dass sie kaum erkennbar ist, mit einer zarten weißen Spitzenkante. Von wegen chinesische Teesäcke!

Der Meister

William Fan ist unbestritten der Meister einer neuen Ökologie der Mode. Seine Leinenkleider mit edelsten Guipure-Applikationen (Guipure: eine kräftige Art von Spitze) umhüllen den Körper in großen Gesten, riesigen Volumen. Tunnelzugbänder erzeugen voluminöse Raffungen, die Ärmel, wie oft bei Fan, chinesisch überlang. Die meisten Sachen sind nicht körperbetont, eher drapiert, den Körper umhüllend, sogar die Hosenbeine sind unten zusammengebunden wie eine geschlossene Hülle mit eigenem Volumen.

Zum Schnitt gehört das Tragen des Outfits, das Fan zu einem eigenen Genre entwickelt. Und es gibt komplizierte Arten, einfache Kleider zu tragen! Weite Trenchcoats werden in Fans neuer Kollektion über nur eine Schulter gezogen, asymmetrisch.

Die Umgebung, die Geschichte, in die Fan dieses Mal seine Show getaucht hat, liegt auf der gleichen Linie. Auf dem Rasen des Gartens im Kronprinzenpalais ist ein blendend weißer Stoffkreis ausgebreitet, begrenzt von Stangen mit weißen Tüchern. Die Models, die darüber schreiten, tragen die weiten Kleider übereinander, sodass sie oft große Beuteltaschen bilden. Da kann du alles unterbringen, was du hast und bist, du Bettelmönch! (Alte chinesische Weisheit: Je ärmer es aussieht, desto teurer ist’s.)

Tüll in Puderpastell

Wie anders Europa da ist, das alte. Wenn Marina Hörmannseder die Besucher mit strahlender österreichischer Gastlichkeit empfängt, Gesamtösterreich, von Rauch über Mozartkugel bis zu Manner als Sponsor. Ihre neue Kollektion baut alles auf einen Gegensatz: einerseits märchenhaft verspielte Rüschen, meterlanger, in mehreren Reihen geraffter Tüll in Puderpastellfarbe, in dem die Models oft wie Lebkuchen in einer Herzform stecken; dazu dann Hörmannseders Markenzeichen: schwarze Korsagen aus lackiertem Leder, die wie Abformungen des Körpers sind.

Oder mein persönlicher Star: die junge, außergewöhnliche Berliner Modemacherin Isabell Vollrath, ausgebildet in der Modeschule Weißensee. Von einem Aufenthalt in Venedig bei dem bekannten Couturier Stefano Nicolao, der auch viel fürs Theater arbeitet, brachte sie eine Form­idee mit. Aus ihr hat sie jetzt mit hoher gestalterischer Intelligenz eine ganze Kollektion entwickelt.

Die Form des sogenannten venezianischen Fensters – drei Bögen, ein höherer in der Mitte und zwei niedrige zu den beiden Seiten, das Ganze oft durch Säulen gegliedert – gestaltet Vollrath zu Schnitten ihrer ganzen Kollektion.

Mit dem Kopf als Zentrum und den Schultern als Seiten­bögen wandert die Form über den ganzen Körper: die Schultern oft wie Schnäbel von einer venezianischen Karnevalsmaske und überhängend, die Falten der Hosen wie Säulen und bedruckt mit der alten Technik des Siebdrucks wiederholt sich die Form des venezianischen Fensters. Die blauen Farbakzente wirken dann wie ein Spiegelbild von Häusern, Fenstern und Säulen im bewegten Wasser der Kanäle.

Und das Schöne ist: Alles ist sofort tragbar und doch Haute Couture!