Gescheiterte Befreiung

Vor vier Monaten vertrieb die türkische Armee die YPG aus dem syrisch-kurdischen Afrin. Verbessert hat sich seitdem nicht allzu viel. Im Gegenteil: Verschwunden sind vor allem unverschleierte Frauen und Alkohol

Hat jetzt zusammen mit türkischen Streitkräften das Sagen in Afrin: die Freie Syrische Arme (FSA) Foto: Beha el Halebi/Anadolu Agency/picture alliance

Aus Afrin Inga Rogg

Schulter an Schulter posieren Sipan Abdo und seine Ehefrau für ein Selfie. Lang fällt das dichte, dunkelbraune Haar über den Rücken der Frau. Verliebt lächelt das junge Paar in die Kamera. Es ist ein Bild aus besseren Tagen.

Heute sei es unvorstellbar, dass sie so in aller Öffentlichkeit posierten, sagt Abdo. Überhaupt verlässt seine Frau das Haus nur noch, wenn es unbedingt sein muss. „Frauen müssen sich verschleiern. Sehen Sie, so sieht meine Frau jetzt aus.“ Auf seinem Handy zeigt er uns ein weiteres Bild. Das Lächeln der Frau ist verschwunden. Mit einem schwarzen Umhang und einem schwarzen Kopftuch bekleidet blickt sie ernst in Kamera. „Das ist die Freiheit der Freien Syrischen Armee“, sagt der Mittzwanziger.

Knapp sechs Jahre herrschten in Afrin, einem mehrheitlich kurdischen Landkreis in der Provinz Aleppo, die Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihre Kämpfer von den Volksverteidigungseinheiten (YPG). Wie in anderen von ihnen regierten Gebieten entlang der türkisch-syrischen Grenze versuchte die PYD ihre Vision von einer „staatenlosen Demokratie“ ins Werk zu setzen. Ämter wurden paritätisch mit Frauen und Männern besetzt, Regierungschefin von Afrin wurde eine Frau. Über alldem wachte symbolisch Abdullah Öcalan, der inhaftierte Chef der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), aus der die PYD einst hervorging.

Je mächtiger die PYD und ihr bewaffneter Arm, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), wurden, desto schriller wurde der Ton in Ankara. Ende Januar marschierten türkische Truppen schließlich in Afrin ein, Mitte März gaben sich die YPG geschlagen. Seitdem wird die Region von türkischen Soldaten, Spezialeinheiten und Kämpfern verschiedener Rebellengruppen kon­trolliert, die mit Ankara verbündet sind.

Nach dreieinhalb Monaten gewährt die Türkei erstmals einen Einblick in die neue Verwaltung. Auf einer vom türkischen Presseamt organisierten Tour dürfen Vertreter ausländischer Medien am ersten Julitag nach Afrin reisen. Jenseits des türkischen Grenzübergangs Öncüpinar bei Kilis kampieren Tausende Vertriebene in Zelten und notdürftig errichteten Hütten zwischen Olivenbäumen. Eine lange Sprengschutzmauer steht wie ein Betonriegel zwischen den Feldern, um Flüchtlinge an der Einreise in die Türkei zu hindern. Auf einer holprigen Nebenstraße, die an der syrischen Grenzstadt Azaz vorbeiführt, werden die ersten Zeichen des Kriegs sichtbar: ausgebombte Hügelstellungen der YPG, verlassene Schießstände mit aufgetürmten Sandsäcken, Erdwälle und mit Einschusslöchern übersäte Hauswände.

Auf einer Mauer steht in grünen Lettern „YPG“. Es ist das einzige Zeichen, das an die ehemaligen Herrscher von Afrin erinnert. Zwar werden die Felder bestellt, aber etliche Dörfer wirken wie ausgestorben. Häuser tauchen auf, die mit einem roten X markiert sind. Auf anderen haben sich Rebellengruppen mit Graffiti verewigt, besonders häufig die salafistische Jabhat al-Shamiya (Levante-Front).

„Unter der YPG war es nicht gut, aber unter der FSA ist es schlimmer“

Sipan Abdo, 26, Bewohner von Afrin

An einem Checkpoint kontrollieren junge Burschen in Zivil mit umgeschnallten Magazinen den Verkehr. An der Strecke sieht man aber vor allem Polizisten und Soldaten türkischer Elite­einheiten. Sie bewachen auch den mit Sprengschutzwänden abgesicherten Regierungssitz von Afrin. Offiziell liegt die Verantwortung bei einem 20-köpfigen Stadtrat, der im April im türkischen Gaziantep gewählt wurde. Doch schon die Beflaggung macht deutlich, wer eigentlich das Sagen hat: Über dem historischen Gebäude weht die türkische Flagge und darunter die Fahne der Freien Syrischen Armee (FSA).

Eine goldene Tafel verkündet, dass hier das Koordinationszentrum für humanitäre Hilfe des Gouverneurs der türkischen Provinz Hatay untergebracht ist. Vali, Gouverneur, nennen sie seinen Vertreter in Afrin, er selbst nennt sich lieber Berater. Nach dem Sieg der Türken und ihrer Verbündeten waren arabische Kämpfer plündernd durch die Stadt gezogen. Heute versuchen Regierungsvertreter aus Ankara, die positiven Seiten des Endes der „Terrorherrschaft“ zu betonen.

Die Türkei habe Straßen, Wohnhäuser, Bäckereien und Schulen repariert, die Wasserversorgung wiederhergestellt, liefere Mehl für die Bäckereien und unterstütze die Spitäler in der Region. Ankara zahlt die Kämpfer und auch sämtliche Angestellten. Das kostet die türkischen Steuerzahler jeden Monat Millionen, genaue Zahlen wollen Regierungsvertreter aber nicht nennen.

„Die Türken sind in Ordnung“, sagt Abdo. „Aber sehen Sie sich diese Typen an.“ Mit dem Kopf nickt er in Richtung einer Gruppe von Kämpfern rund um den Platz vor dem Regierungssitz, in dessen Mitte die Trümmer eines kurdischen Nationaldenkmals liegen. Die Kämpfer tragen ein Mischmasch aus türkischen Uniformen, Kaki-Hosen und Jeans. Während einige glatt rasiert sind, haben etliche Bärte und lange Haare, wie man es von beinharten Islamisten kennt. Vor einem Imbiss auf dem kleinen Markt rund um den Platz lungert eine Gruppe von Kämpfer in Latschen herum. „Unter der YPG war es nicht gut, aber unter der FSA ist es schlimmer“, sagt der 26-Jährige. „Sie bringen Leute um, und die Türken schauen weg.“

Dass diese Vorwürfe nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt der Bericht des Uno-Menschenrechtsbüros vom Juni. Darin werden besonders der Sultan-Murad-Division, die sich vor allem aus Turkmenen rekrutiert, und zwei arabischen Gruppierungen aus Aleppo und Deir al-Sor Diebstahl, Einschüchterung, grausame Behandlung von Zivilisten und Mord zur Last gelegt. Darüber hinaus sorgen bewaff-nete Konflikte zwischen den ver-schiedenen Rebellenfraktionen für Rechtlosigkeit.

Außerdem, sagen Kurden, würden türkische Hilfstruppen gezielt Araber ansiedeln. Nach Angaben der türkischen Regierung sind 140.000 Einheimische zurückgekehrt, die im Frühjahr vor dem Krieg geflohen waren. Nach Uno-Angaben leben weiterhin mehr als 130.000 Vertriebene in Camps und Unterkünften in Gegenden nahe Aleppo. Nach türkischen Angaben gibt es in der Region um Afrin fünf Camps, in denen Vertriebene aus dem Rest des Landes untergebracht sind. Andere haben sich in Afrin Wohnungen und Häuser gemietet, so wie Mohammed Yassin.

Auf dem Markt betreibt der Araber aus Aleppo einen Gemüse- und Obsthandel. „Das Leben ist gut hier“, sagt er. Während in anderen Vierteln zahlreiche Geschäfte geschlossen sind, gibt es hier neben Lebensmittelläden und einer Metzgerei sogar eine Eisdiele. „Er kann hierher, aber wenn ich nach Aleppo will, lassen sie mich nicht mehr zurück“, sagt Hawzhin Mohammed, der in Aleppo studierte. Wie Sipan Abdo müssen wir auch Hawzhin Mohammed versprechen, seinen wirklichen Namen nicht zu nennen, damit er offen reden kann. Viele Kurden befürchten, die Türkei wolle das Gebiet arabisieren.

Derzeit bildet Ankara 2.000 Polizisten aus, die künftig für Sicherheit und Ordnung sorgen sollen. Ab kommender Woche soll der Abzug türkischer Truppen beginnen, wann dieser abgeschlossen sein wird, steht nicht fest. Das hänge auch von den Entwicklungen vor Ort ab, sagt ein Beamter.

Abdo will nicht so lange warten. „Wir haben heute weniger Freiheiten als unter der YPG“, sagt er. Mit der YPG seien nicht nur unverschleierte Frauen aus dem öffentlichen Leben und aus Führungspositionen verschwunden, sondern auch der Alkohol aus den Regalen. „Alles ist hier verboten“, sagt Abdo. Sein Entschluss steht fest: Er will mit seiner Frau fliehen – am liebsten nach Europa.