Streit in der Union: Merkels strategische Fehler

Die Kanzlerin hat auf die Provokation von Seehofer falsch reagiert – und sich damit selbst unnötig in eine hoch anfällige Lage gebracht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer sitzen bei einer Veranstaltung

Sie hätte ihn ins Leere laufen lassen können: Bundeskanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer Foto: reuters

Angela Merkel ist in einer verdammt schwierigen Situation. Wenn sie bis zum Wochenende keine Ergebnisse liefert, die der CSU genügen, könnte eine gefährliche Kaskade in Gang kommen. Innenminister Seehofer würde an der deutschen Grenze gegen ihren Willen Flüchtlinge zurückweisen, die bereits in einem anderen EU-Staat registriert waren. Merkel würde ihn anweisen, das zu unterlassen. Er würde sich weigern, sie würde ihn rauswerfen, die CSU würde die Regierung verlassen. Das Chaos wäre perfekt.

Doch Merkel hat sich diese Lage zumindest teilweise selbst eingebrockt. Sie hat die Provokation Seehofers äußerst ungeschickt angenommen und sich so in eine Abhängigkeit von der CSU gebracht, auf deren Gutmütigkeit und Kompromissfähigkeit derzeit niemand rechnen kann. Sie hätte anders reagieren können und müssen, als Seehofer in seinen Masterplan zur Migration die Zurückweisungen an der Grenze aufnahm. Die taz erläutert Merkels sechs strategischen Fehler.

Erster strategischer Fehler

Merkel hat Seehofer nicht an seine Pflichten erinnert. Eigentlich sollte der Masterplan vor allem erläutern, wie die von der CSU im Koalitionsvertrag durchgesetzten Ankerzentren funktionieren sollen. Diese waren selbst bei von der Union regierten Ländern unbeliebt, weil die Ansammlung von über tausend perspektivlosen Flüchtlingen in Großeinrichtungen als Sicherheitsrisiko gilt.

Seehofer hatte wohl gemerkt, dass die CSU hier ein Eigentor geschossen hatte und wollte deshalb mit den Zurückweisungen einen neuen Konflikt auslösen. Das ist ihm gelungen. Von den Ankerzentren redet derzeit kaum noch jemand.

Es wäre deshalb klüger gewesen, Seehofer den Masterplan veröffentlichen zu lassen, damit seine Pläne zu den Ankerzentren breit diskutiert (und verrissen) werden können. Merkel hätte dann Nachbesserungen einfordern können, schließlich sind die Ankerzentren laut Koalitionsvertrag ein zentraler Bestandteil der Regierungspolitik. Seehofer wäre erstmal in der Defensive gewesen.

Zweiter strategischer Fehler

Merkel hat die Zurückweisungspläne zu ernst genommen. Indem sie Wohl und Wehe des Masterplans von diesem einen Punkt abhängig machte, hat sie ihm eine Bedeutung verliehen, die ihm nicht zwingend zukommen musste. Nachdem sie die Umsetzung der Pläne später auch noch zur Frage ihrer Richtlinienkompetenz als Kanzlerin machte, hat sie sich endgültig in eine Er-oder-ich-Position manövriert.

Warum hat Merkel nicht gelassener reagiert? Sie ist doch in einer starken Position. Sie hätte Seehofer daran erinnern können, dass Zurückweisungen gerade nicht Teil des Koalitionsvertrags sind und dass sie sogar gegen EU-Recht verstoßen. Sie hätte dann hoffen können, dass die Einführung von Zurückweisungen an den lediglich drei bestehenden festen Kontrollpunkten an der deutsch-österreichischen Grenze wenig Auswirkungen hat, weil die Flüchtlinge dann eben andere Übergänge oder die grüne Grenze nutzen.

Eventuell hätte es sogar schnell erste Eilbeschlüsse von Verwaltungsgerichten gegeben, dass die Zurückweisungen rechtswidrig sind und die Flüchtlinge vorerst einreisen können, um in Deutschland den für das Asylverfahren zuständigen EU-Staat zu ermitteln. In diesem Rahmen wäre Seehofers Zurückweisungspolitik nur ein neuer Rohrkrepierer geworden.

Dritter strategischer Fehler

Merkel hätte Seehofers Ziele nicht übernehmen dürfen. Indem die Kanzlerin Mitte Juni versprach, auch sie wolle „illegale Migration“ reduzieren, hat sie das Szenario der CSU, wir hätten derzeit eine Systemkrise, die nur durch radikale einseitige Maßnahmen beendet werden kann, völlig unnötig bestätigt.

Die Flüchtlingslage ist längst nicht mehr so angespannt wie in der Vorjahren. Es gab keinen Grund, dass Merkel nun faktisch die CSU-Parole von der absolut notwendigen „Asylwende“ übernimmt. Schließlich hat die CSU den Maßstab für das, was Deutschland leisten kann sogar in den Koalitionsvertrag geschrieben: die Aufnahme von 180.000 bis 220.000 Menschen pro Jahr. Nach den bisher vorliegenden Zahlen wird sich die Zahl der Asylbewerber in Deutschland genau in diesem Korridor bewegen.

Es hätte völlig genügt, wenn Merkel hieran erinnert hätte. Verfehlt ist in diesem Kontext übrigens auch der Terminus „illegale Migration“, den Rechtsradikale für jede Form von Fluchtbewegung benutzen. Natürlich haben Flüchtlinge in der Regel kein Visum zur Einreise. Wer sie aber darauf reduziert, macht Opfer zu Tätern. Auch mit dieser inakzeptablen Wortwahl hat Merkel unnötig das Setting der CSU übernommen.

Vierter strategischer Fehler

Merkel setzte sich unnötig ein völlig unrealistisches Ziel. Wenn sie die Zahl der Asylverfahren in Deutschland reduzieren will, heißt das im Umkehrschluss, dass andere EU-Staaten mehr Asylverfahren durchführen müssen. Sie müssten also bei Anerkennung mehr Flüchtlinge integrieren und bei Ablehnung deren Abschiebung organisieren (was bekanntlich schwierig ist, wenn die Herkunftsstaaten nicht kooperieren).

Nun kann man es für eine Fehlentwicklung halten, wenn fast alle, die nach Deutschland einreisen (um den EU-Staat festzustellen, der fürs Asylverfahren zuständig ist), am Ende ein Asylverfahren in Deutschland erhalten. Von 200.000 Asylantragstellern wurden 2017 nur 7.000 an andere EU-Staaten überstellt – obwohl fast alle durch einen anderen EU-Staat nach Deutschland einreisten und zumindest 60.000 auch dort mit Fingerabdrücken registriert wurden.

Wenn die CSU sagt, sie will europäisches Recht durchsetzen, dann meint sie die Dublin-III-Verordnung. Bei deren strenger Anwendung fände am Ende aber kaum ein Asylverfahren in Deutschland statt, sondern fast alle in den Staaten der EU-Außengrenzen.

Dass diese Dublin-III-Verordnung zutiefst ungerecht ist, ist heute allgemein anerkannt. Deshalb wird seit Jahren über einen anderen Verteilungsmodus verhandelt, was aber daran scheitert, dass Staaten wie Ungarn jede Quotenregelung ablehnen. Indem Deutschland relativ großzügig Asylverfahren durchführt, für die es eigentlich nicht zuständig wäre, sorgt es dafür, dass das Dublin-System übergangsweise weiter angewandt werden kann. Die Migranten werden an den Außengrenzen – anders als 2015 – wieder registriert und nicht einfach durchgewunken.

Derzeit finden knapp ein Drittel aller EU-Asylverfahren in Deutschland statt. Das ist angesichts der Größe, Wirtschaftskraft und Akzeptanz in Deutschland nicht unverhältnismäßig. Etwas anderes käme wohl auch bei einer Quotenregelung in einer neuen Dublin-Verordnung nicht heraus.

Dagegen setzt eine Reduzierung dieses Anteils voraus, dass Staaten an der EU-Außengrenze, die sich durch das Dublin-System ohnehin übervorteilt fühlen, mehr Asylverfahren übernehmen. Dazu werden sie aber nicht bereit sein und die geplante Reform des Dublin-Systems wird durch eine solche deutsche Haltung auch unnötig belastet. Merkel behindert also selbst eine europäische Lösung, indem sie die CSU-Ziele übernimmt.

Fünfter strategischer Fehler

Neue Rückübernahmeabkommen mit anderen EU-Staaten sind nicht erforderlich. Merkels Ankündigung, sie wolle bilaterale Abkommen mit Staaten wie Italien abschließen, ist nur schwer nachvollziehbar. Italien muss der Rücknahme von Flüchtlingen, für deren Asylverfahren es zuständig ist, nicht erst in neuen Abkommen zustimmen. Vielmehr ist dies bereits zentraler Gegenstand der Dublin-III-Verordnung. Und zumindest auf dem Papier scheint Italien dazu auch bereit.

2017 hat Deutschland 22.706 Dublin-Übernahmeersuchen an Italien gestellt, davon hat Italien in 21.264 Fällen zugestimmt, also fast immer. Trotzdem kam es nur 2.110 Fällen tatsächlich zur Überstellung. Möglicherweise hat Deutschland Fristen nicht eingehalten, möglicherweise haben Gerichte interveniert, weil die Zustände für Flüchtlinge in Italien besorgniserregend sind. Die Regierungs-Statistik lässt dies offen.

Ein separates Verwaltungsabkommen mit Italien ist nach der Dublin-III-Verordnung zwar möglich, aber nur um „die Vereinfachung der Verfahren und die Verkürzung der Fristen“ festzulegen. Eine Verkürzung der Fristen ist aber eher nicht im deutschen Interesse, wenn man schon mit einer Sechs-Monats-Frist organisatorisch überfordert ist.

Der Verweis auf entsprechende Abkommen zwischen Frankreich und Italien geht ebenso fehl. Erstens haben diese beiden Staaten eine gemeinsame Grenze, da ist manches einfacher, weil für die Überstellung kein Flug organisiert werden muss. Außerdem sind auch diese Abkommen rechtlich hoch umstritten, weil die vorgesehenen Schnell-Überstellungen den Betroffenen keine Chance auf Rechtschutz lassen.

Sechster strategischer Fehler

Merkel verweist Seehofer nicht auf seine Möglichkeiten. Selbst wenn man findet, dass etwas mehr Flüchtlinge nach Italien überstellt werden müssten, um die Akzeptanz der europäischen Zusammenarbeit in Deutschland zu erhöhen, dann hätte Seehofer als Innenminister genügend Möglichkeiten, selbst dafür zu sorgen.

Schließlich werden die Dublin-Verfahren, bei denen der zuständige EU-Staat festgestellt wird, im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durchgeführt. Und für das BAMF ist Seehofer zuständig. Wenn die Verfahren dort zu langsam und nachlässig geführt werden, dann könnte Seehofer dafür sorgen, dass sie beschleunigt werden.

Für die eigentliche Überstellung (Abschiebung) nach Italien sind dann zwar die Länder zuständig. Aber der Bund hat schon oft seine Hilfe angeboten. Faktisch werden Abschiebeflüge auch vom Bund koordiniert. Auch hier ist also Seehofer der Zuständige, nicht Merkel. Soweit Überstellungen an gerichtlichen Interventionen wegen der Zustände in Italien scheitern, könnte Seehofer ja seinen Innenminister-Kollegen Matteo Salvini, mit dem er eine „Achse der Willigen“ bilden will, von der Einhaltung europäischer Standards überzeugen. Merkel hätte Seehofer auf seine eigenen Optionen hinweisen können – statt sich selbst unerfüllbare Aufgaben zu setzen.

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