Trümmer der Justiz

Vollkommen überraschend wurde der Niederländer Peike S. nun aus der Untersuchungshaft entlassen. Der G20-Gegner saß seit mehr als einem Jahr im Gefängnis

Sehen die Flaschenwerfer vor lauter Scherben nicht: Staatsanwaltschaft und Gericht Foto: Marcus Brandt/dpa

Von Marthe Ruddat

Nervös laufen etwa 30 Menschen vor der Tür der Untersuchungshaftanstalt am Hamburger Holstenglacis hin und her. „Peike vrij“ – „Peike frei“ – steht auf einem Banner geschrieben. Immer wieder öffnet sich die braune Metalltür, Mitarbeiter*Innen verlassen das Gebäude. Um 14:05 Uhr ist dann soweit: Peike S. tritt aus der Tür, er streckt die linke Faust in die Höhe, grinst über das ganze Gesicht. Jubel bricht aus. Die Unterstützer*Innen, Freunde und Familie applaudieren lange. S. fällt zuerst seiner Mutter in die Arme, nach und nach umarmt er auch seinen Vater, seine Brüder und alle anderen.

Nach mehr als einem Jahr wurde der 22-jährige Niederländer am Donnerstag überraschend gegen die Zahlung einer Kaution und unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Staatsanwaltschaft und Gericht kamen damit einer Beschwerde nach, die die Verteidiger bereits Anfang Juli eingelegt hatten. Der Haftbefehl wurde zwar nicht aufgehoben, mit der Haftverschonung ist S. aber mindestens bis zum Urteil im laufenden Berufungsprozess auf freiem Fuß.

Das Urteil gegen Peike S. war das erste und bislang härteste G-20-Urteil. In erster Instanz verurteile das Hamburger Amtsgericht den heute 22-jährigen Niederländer wegen schwerem Landfriedensbruch, gefährlicher Körperverletzung, Widerstand und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Peike S. wurde am 6. Juli 2017, dem Vorabend des G20-Gipfels festgenommen. Aus der Gruppe eines spontanen Demonstrationsaufzugs soll S. zwei Flaschen auf Polizisten geworfen haben. Einen Beamten soll er an Kopf und Bein getroffen haben. Dieser hat nach eigenen Angaben dadurch Kopf- und Nackenschmerzen erlitten.

Die Staatsanwaltschaft machte S. damals explizit mitverantwortlich für die Ausschreitungen im Schanzenviertel am Gipfelfreitag – obwohl er zu dieser Zeit bereits in Untersuchungshaft saß. Es sei ein generalpräventiver Aspekt zu bedenken, also Nachahmer durch ein beispielhaftes Urteil abzuschrecken, so die Staatsanwaltschaft damals. Der für seine harten Strafen bekannte Amtsrichter Johann Krieten setzte mit zwei Jahren und sieben Monaten Haft sogar ein höheres Strafmaß an, als von der Staatsanwaltschaft gefordert. Er begründete dies mit der kurz vor dem Gipfel in Kraft getretenen Gesetzesverschärfung zum Schutz von Polizisten im Dienst.

Gegen das erstinstanzliche Urteil legten S.s Verteidiger Berufung ein. Seit Anfang Februar wurde der Fall vor dem Landgericht erneut verhandelt. Dass S. am Donnerstag plötzlich frei kommen würde, war nicht abzusehen. „Damit hat heute wirklich niemand gerechnet“, sagte Verteidiger Alexander Kienzle. Bereits drei Mal hatte die Verteidigung erfolglos die Aufhebung des Haftbefehls beziehungsweise eine Haftverschonung beantragt.

Anfang Juli stellten die Verteidiger den letzten Antrag auf Haftverschonung, weil sich der Prozess bereits über mehr als fünf Monate hinzieht und im Schnitt nicht mal wöchentlich verhandelt wurde. Für die Anwälte absolut unverhältnismäßig und damit auch rechtswidrig. Auch diesen Antrag lehnte das Gericht zunächst ab, die Verteidiger legten dagegen Beschwerde ein. Am Donnerstag nun die Kehrtwende: Staatsanwaltschaft und Gericht stimmten einer Haftverschonung plötzlich zu.

Offiziell, weil sich die Fluchtgefahr angesichts der langen Untersuchungshaft verringert habe und man Peike S. die Aufnahme eines Studiums nicht verwehren wolle. Ein weiterer Grund dürfte aber auch in einer erneuten Verzögerung des Verfahrens liegen. Für Freitag ist der nächste Verhandlungstag angesetzt. Der Prozess wird dann aller Voraussicht nach nicht enden. Weitere Verhandlungstage sind aber noch nicht terminiert.