Hadernd, doch brillant

Autor, Gastgeber, Kritiker, Kino-Nerd und Freund sondergleichen: Kurt Scheel, einst Herausgeber des „Merkur“, ist am Dienstag gestorben

Kurt Scheel als Heraus­geber des „Merkur“, aufgenommen 2011 in den Redaktionsräumen der Zeitschrift in der Berliner Mommsenstraße Foto: Santiago Engelhardt

Von Jan Feddersen

War das nicht erst neulich, im Mai, als er aus dem Café Auster im Haus der Kulturen der Welt an der Spree ging? Schon ein Sommerabend, die Gesellschaft in leicht heiterer Stimmung. Als er den Ort der Trauerzusammenkunft der Freunde und Freundinnen des im März verstorbenen Michael Rutschky, eines seiner engsten Freunde, hinter sich ließ? Kurt Scheel sah wie immer aus, mittelgut gelaunt und mürrisch zugleich, aber das auf eine Weise, die niemanden verprellen wollte. Viele wussten: Er wird nun, wie mit dem sterbenden Freund Rutschky verabredet, die nächste Folge seiner „Aufzeichnungen“ editieren, das dritte Buch der „Sensationen des Gewöhnlichen“.

Das hat Kurt Scheel, soweit man hört, geschafft, auch ein Vorwort ist noch hinzugekommen, verlagsfertig, alles picobello als Lektor küchenfertig bearbeitet. Wer ihn kannte, wird sich nicht wundern: Der Mann, der das Bildungsbürgerliche des Merkur zeitlebens zu lernen hatte, war ein Freund, der auf Treue hielt und niemals und unter gar keinen Umständen sein Versprechen gebrochen hätte.

Also betreute er das Buch seines besten Freundes akkurat zu Ende – obwohl er selbst, der am häufigsten in den zweieinhalbtausend Seiten an Tagebucheinträgen Rutschkys genannt wird, oft viel zu kühl, ja mit wenig Freundschaftswärme und mehr der klassischen Loyalität von Buddies behandelt wird. Rutschky, das wird Scheel klar geworden sein, hat ihn wie ein Objekt im Okular eines Kleintierforschers geschildert – als Teil einer Chronik einer Intellektuellenmilieus der achtziger bis zehner Jahre.

Der bis 2011 – neben Karl Heinz Bohrer – als Herausgeber der Intellektuellenzeitschrift Merkur arbeitende Germanist ist am Dienstag gestorben. Er wollte dies so, es war ein Sterben mit Absicht, von eigener Hand, sehr konsequent durchgeführt. Kurt Scheel wurde 70 Jahre alt.

Der 1948 in Hamburg geborene Scheel war ein oft hadernder, dann aber doch brillanter Autor und Stichwortlästerer, der schwerstveräppelnden Edelunsinn verzapfte, so zuletzt in der taz auf der „Wahrheit“-Seite. Seine Beiträge im Blog „Das Schema“ waren Zeugnisse ätzend-abweisend-freundlicher Zeitgenossenprosa – eines Mannes, der sich für wenig zu schade war und nichts so hasste, wie Auskünfte von Ungeistverwandten, sie säßen zwischen den Stühlen. Scheel hat ihnen die Stuhlbeine süffisant wegzukegeln gewusst – weil sie Poseure und Poseusen seien, jene, die auf die Weltläufigkeit der Kritiker halten, also die der Krittelnden und Nörgelschlusen.

Und er war so viele Jahre Freund, der feinst kochte und ausschenkte, der noch im buntesten Jayne-Mansfield-Film die ästhetische Verwandtschaft zu Godard und anderen Nouvelle-Vague-Heiligen zu erkennen wusste. Er erkannte in beliebigen Edgar-Wallace-Filmen mehr subversives Potenzial, Lustigkeit sowieso, als in allen Machwerken des Neuen Deutschen Films, die er schon ihrer chronischen Schlechtgelauntheit wegen hasste. Kein Wunder, dass er John Wayne lobpries, wo es ging, oft tat er dies vor vielen Jahren in der taz, wie Kathrin Passig es angemessen würdigte.

In den vielen Jahren als faktischer Chefredakteur des Merkur hat er viel dafür getan, dass gewisse deutsche Vermieftheiten in der politischen Diskussion, sei es von rechts oder, besonders gern, weil Mainstreamig, von links, nicht ohne Rüge davonkommen. Er kam nur noch selten in die Räume des Merkur und hielt sich, als er nichts mehr bestimmte, aus allem, was dort geschah, raus. Der Sohn eines Kinobesitzers von der Hamburger Elbinsel Altenwerder wollte von sich nichts hermachen: Was auch schade war.

Er litt, das erzählte er nur selten selbst, es ist aber in Michael Rutschkys Tagebuchprojekt zu lesen, unter Freundschaftsverlusten heftig – niemand sollte gehen: Verlusterfahrungen müssen ihn früh geprägt haben, Einsamkeitsgefühle ohnehin. Als nach dem 11. September 2001 der Merkur den Kurs des linksliberalen und liberalkonservativen Milieus nicht mittragen und das islamistische Attentat auf die Twin Towers nicht den USA selbst in die Schuhe schieben wollte, als in einer Fülle von Texten das Ressentiment so vieler in seiner Szene durchbrach („Die Amis haben sich das selbst zuzuschreiben“), war es um viele Freundschaften geschehen, auch um persönliche Bindungen. Als Scheel außerdem den „Kapitalismus“ nicht wie eine Teufelsvokabel von sich wies, war es mit der Gemütlichkeit für den Merkur, vor allem für Scheel (und Karl Heinz Bohrer) vorbei: Eine plätschernde Diskursspiegelungsmaschine – die durfte der Merkur sein, aber doch kein Periodikum, das das politische Gewölk der linksliberalen Szene gründlich irritierte. Den sogenannten Bellizismus hat man ihm nie verzeihen wollen – vor allem nicht, weil in der Haltung des Merkur mehr Realismus im Spiel war als in den meisten Diskursbeiträgen nach 9/11.

Jedenfalls: Er hielt sich ja zurück, wurde Privatier. Mit wärmster Anteilnahme, ohne die Contenance verlieren zu wollen, hat er Michael Rutschky als Freund beim Sterben begleitet, im Krankenhaus und, als er nicht mehr lebte, die Seeurnenbestattung organisiert.

Er war, weil er nicht so nahbar wirkte, einer der nettesten und freundlichsten und sympathischsten Menschen, der sich nur denken lässt. Es ist zum Kotzen traurig.