„Kollektives Handeln fehlt“

Wolfgang Schroeder über Fachkräftemangel in der Altenpflege und strukturelle Probleme

Foto: privat

Wolfgang Schroeder 58, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel, Research Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; hat kürzlich eine Studie zu Arbeitsbedingungen und Interessenvertretung in der Altenpflege vorgelegt.

Interview Susanne Memarnia

taz: Herr Schroeder, es wird viel geredet über den Fachkräftemangel in der Altenpflege. Sie haben für eine Studie mit Beschäftigten gesprochen. Was sind aus deren Sicht die größten Probleme?

Wolfgang Schroeder: Das größte Problem sind die Arbeitsbedingungen, die sich in einer verdichteten, engen Personalbemessung niederschlagen. Letzteres heißt, wenige Leute müssen in kurzer Zeit ganz viel leisten – was gerade in sozialen Berufen, die mit Menschen arbeiten, kontraproduktiv ist. Die Beschäftigten wollen Zeit für die Menschen haben, wollen ihre Arbeit gut machen – dieser Druck, diese Minutenpflege, wie man heute auch sagt, geht einfach gegen Berufsehre und -verständnis. Der zweite Punkt ist die Entlohnung, die strukturell schlechter ist als in vergleichbaren Berufen. Der durchschnittliche Bruttostundenlohn in Deutschland liegt bei etwa 16,97 Euro – für examinierte Fachkräfte in der Altenpflege bei 14,24. Aber das ist noch nicht das Dramatischste.

Sondern?

Etwa zwei Drittel der AltenpflegerInnen arbeiten in Teilzeit – und davon ein erheblicher Teil in Zwangsteilzeit. Das führt nicht nur zu einem geringen Monatslohn, sondern damit sind auch unzureichende Rentenansprüche verbunden, mitunter sogar Altersarmut.

Was sagen die Beschäftigten, wie das zu ändern sei?

Das war ganz überraschend bei unserer Studie. Über 80 Prozent der Befragten meinen, dass der Staat die zentrale Verantwortung für die unzureichende Attraktivität, die schlechten Arbeitsbedingungen und die geringe Perspektive im Beruf hat. Wir haben dann gefragt, wie ist das mit den Arbeitgebern …

ja, genau …

… weil inzwischen die Altenpflege auch Gegenstand renditeorientierter Investments ist. Die Renditeerwartungen in dem Bereich gehen ja deutlich in den zweistelligen Bereich, sodass man schon sagen kann, dass die Arbeitgeberseite einen Anteil an dem Problem hat. Das wird auch von den Arbeitnehmern gesehen, aber eben deutlich geringer ausgeprägt gegenüber der Verantwortungszuweisung an den Staat. Wir haben also auf der einen Seite eine durchschlagende Ökonomisierung im Bereich der Pflege in den letzten 20 Jahren erlebt. Auf der anderen Seite hat sich bei den Betroffenen kein starkes Bewusstsein für ihre eigenen Interessen gegen­über den Arbeitgebern entwickelt, um auf Augenhöhe den Arbeitgebern durch kollektive Organisationen zu begegnen. Es geht also darum, wie aus schwachen Interessen starke Interessen werden können. Und das wird nur durch kollektives Handeln möglich sein.

Liegt das am karitativen Selbstverständnis von Pflegenden?

Ja, aber die Wurzeln dafür liegen tiefer: Es liegt an den Strukturen des konservativen deutschen Wohlfahrtsstaates, der darauf aufbaut, dass Frauen zu Hause sind, die Care-Arbeit machen, sich kümmern und unentgeltlich – oder nur für ein Zubrot – ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Nur die Männer arbeiten, und darüber wird die nachsorgende Sozialpolitik finanziert. Dazu kommt in der Tat diese besondere Tradition des Liebesdienstes, der Care-Arbeit, die in starkem Maße über die Kirchen und die kirchlich gebundenen Wohlfahrtsverbände viele Jahrzehnte stabilisiert worden ist.

Das heißt, sowohl die Hausfrau als auch die „nächstenliebende“ Pflegerin können sich nicht für ihr Eigeninteresse einsetzen?

So könnte man es sagen. Das ist aber kein Naturgesetz. Kürzlich hatte ich eine Delegation von norwegischen PflegerInnen zu Besuch. Die sind zu 80 Prozent gewerkschaftlich organisiert, hervorragend ausgebildet, haben eine hohe Anerkennung und ein vergleichsweise hohes Einkommen. Das hängt maßgeblich von der Struktur des Wohlfahrtsstaates ab, in dem die Pflege angeboten, durchgeführt und bewertet wird. Unser Umbau in Richtung eines stärker infrastrukturell und an personennahen Dienstleistungen orientierten Wohlfahrtsstaates geht zwar voran, aber er ist noch gerahmt durch alte Strukturen wie die Leistungsbemessung im Care-Bereich aus der Zeit des konservativen Wohlfahrtsstaates.

Bundesgesundheitsminister Spahn will mit einem Sofortprogramm 13.000 zusätzliche AltenpflegerInnen einstellen lassen. Ist das ausreichend?

Nein, das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Dazu kommt, dass diese 13.000 Pflegekräfte aktuell gar nicht zur Verfügung stehen. Man hat zwei Probleme: Einerseits gibt es zu wenige Fachkräfte, andererseits viel zu wenige Plätze, die der Staat und die Einrichtungen bereit sind, als vollwertige Arbeitsplätze zu finanzieren. Das kann man auch daran sehen, dass das Wachstum in diesem Bereich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zwar außerordentlich hoch ist – aber der Löwenanteil in weniger qualifizierte Teilzeitstellen ging. Das sollte geändert werden, zugleich sollte verstanden werden, dass ohne besseren Unterbau in den Einrichtungen mit mehr Beteiligung der Beschäftigten durch kollektive Gremien keine wirkliche Kehrtwende erwartbar ist.