„Es kommen auch für Sky mal schwierige Tage“

Iwan Spekenbrink, Rennstall-Chef von Sunweb, über seinen überraschend starken Schützling Tom Dumoulin, den Giro als Vorbereitung und die neue Ausgeglichenheit an der Spitze der Tour

Ausfahrt in den Alpen: der Niederländer Tom Dumoulin, hier bei der 11. Etappe, bestreitet heuer Giro und Tour Foto: ap

Interview Tom Mustroph

taz: Herr Spekenbrink, glaubt man Tom Dumoulin, dann hat er am „Holländerberg“ Alpe-d ’Huez den Sieg durch eigene Dummheit verpasst, weil er sich verschaltet hat. So hat er das gesagt. Aber ehrlich, hatte er im Sprint überhaupt eine Chance gegen den als sehr endschnell bekannten Geraint Thomas?

Iwan Spekenbrink: Es ist immer Spekulation, zurückzuschauen. Aber wenn man am Hinterrad ist, hat man immer eine Chance. Es war nicht supersteil, also klar, die Chance war da. Aber die Realität war anders, und Geraint Thomas ist einen perfekten Sprint gefahren. Deshalb Gratulation. Und auf Tom können wir auch nur sehr stolz sein.

Man sah in Alpe-d ’Huez auf den letzten Kilometern vier Mann, als Mikel Landa zurückkam, sogar fünf Mann nebeneinander fahren. Die fünf besten auf fast dem gleichen Niveau – das hatte man viele Jahre nicht. Was ist passiert, dass es zu einer solchen Szene kommen konnte?

Das ist doch erst einmal schön, oder? In den letzten Jahren hat man oft gesehen, dass Froome am Anfang die Lücke gerissen hat, und dahinter waren zwei, drei, vier Fahrer gleich. Und jetzt sieht man, dass drei, vier Fahrer gleich sind. Das große Fragezeichen ist; Wird das auch die letzten Tage über so sein? Die Leute glauben, man muss ihn nur isolieren, und dann wird das schon. Sie glauben, man kann das ganz einfach extrapolieren. Aber da können die Unterschiede ganz anders sein.

Liegt diese neue Situation daran, dass Froome schwächer geworden ist? Oder sind die anderen stärker geworden? Oder zahlt Froome bereits für den Start beim Giro? Warum ist dann allerdings Ihr Fahrer Tom Dumoulin, der den Giro ja auch gefahren ist, dermaßen stark?

Das ist alles Spekulation. Es sind immer so viele Faktoren im Spiel. Eine Frage ist: Ist der Giro die beste Vorbereitung auf die Tour?

Und ist er das? Könnte man ja glauben, wenn man Froome auf Platz 2 und Dumoulin auf Platz 3 sieht?

Die Antwort ist: Nein. Ich glaube immer noch, wenn man völlig auf die Tour fokussiert, ist das die beste Vorbereitung. Wir waren ja auch ganz froh, uns zunächst auf den Giro zu konzen­trieren. Das haben wir gemacht. Und wir sind sehr gut gefahren.

Genau, Dumoulin wurde da Zweiter hinter Froome. Anders als bei Froome, der ja sehr früh von seinen Double-Ambitionen gesprochen hatte, schien es lange Zeit eher unwahrscheinlich, dass auch Dumoulin nach dem Giro gleich zur Tour kommt.

Wenn wir mit ihm hierherkommen für ein ziemlich großes Ziel, dann müssen wir das tun, wenn es auch realistisch ist. Er brauchte nach dem Giro Erholung, und er musste Qualitätstraining aufbauen, damit er drei Wochen lang Leistung in der Tour bringen kann. Dafür ist es ganz wichtig, zu sehen, wie man aus dem Giro kommt.

Wenn man verletzt oder sehr müde aus dem Giro kommt und eine ganz lange Regeneration braucht, dann hat man nicht genügend Zeit, um sich rechtzeitig auf die Tour vorzubereiten. Wir können ganz viel vorbereiten, ganz viele Daten sammeln, ganz viel Know-how, aber das Einzige, was wir nicht pro­gnos­tizieren können, ist: Wie ist die Verfassung am Ende der drei Wochen Giro?

Es gibt so viele Variablen: Man kann krank werden, es kann immer schlechtes Wetter sein, sodass man ein Virus mitschleppt. Da mussten wir erst eine gute Evaluation machen. Und dann trafen wir die Entscheidung, dass es gut gehen könnte. Und dann erst haben die Vorbereitungen in Richtung Tour begonnen.

Sind Sie mit Dumoulin hierhergekommen, um zu gucken, wie sein Körper eine solche Belastung durch zwei gleich aufeinanderfolgende Rundfahrten verkraftet, also auch um Erfahrungen zu sammeln für die Zukunft? Oder sind Sie tatsächlich mit ihm hier, um das Rennen zu gewinnen?

Das sind zwei Dinge. Hier und jetzt möchten wir absolute Topleistungen liefern. Aber das Zweite ist, wir wollen auch für die Zukunft lernen, wie das ist, wenn man sich völlig fokussiert auf die Tour, wie man richtig in die Tour geht mit der ganzen Mannschaft. Um in der Zukunft noch besser vorbereitet an den Start zu gehen.

Zwei Ziele bei einer Tour? Verliert man da nicht den Fokus?

Es ist ein kleines Experiment, das ist richtig. Es ist gut, es zu machen. Es ist aber auch suboptimal. Für uns wird wichtig, wie wir in die dritte Woche gehen. Das ist für uns ebenfalls ein Experiment. Aber alles, was wir heute lernen, nehmen wir mit für nächstes Jahr, wenn wir genau darauf fokussieren.

Gibt es jetzt schon Zwischenerkenntnisse?

Dass wir die Qualität in der Mannschaft haben, um mitfahren zu können. Und jetzt müssen wir einen guten Plan machen, um weiter vorn zu bleiben. Wir müssen jetzt so gut wie möglich fahren und dann in der Zukunft unsere Vorbereitung wieder fein tunen.

Also immer beides im Fokus: Ergebnisse jetzt und Erkenntnisse für morgen. Wie schwer wiegt der Nachteil, dass Sie mit Michael Matthews schon einen Fahrer verloren haben, Team Sky aber weiter mit acht starken Leuten im Rennen ist?

Bei uns musste auch noch Wilco Kelderman kurz vor dem Start absagen. Das sind sicherlich Nachteile. Aber man muss auch sagen, dass in Alpe-d’Huez Simon Geschke bis zu den letzten 10 Kilometern bei Tom war, da waren nicht mehr viele Mannschaften noch zu zweit. Wir haben ein starkes Team.

Verändert es die Taktik, dass nur acht Fahrer mitgenommen werden konnten statt neun? Hat das bei Ihnen in der Mannschaftsaufstellung etwas geändert?

Nein. Da hat sich nicht so viel geändert. Man sieht auch bei anderen Mannschaften, dass sie die gleiche Taktik haben wie sonst auch.

Wie sehen Ihre Prognosen für die Pyrenäen-Etappen aus? Wer wird da das Rennen bestimmen?

Es sind noch ganz viele Fahrer im Klassement sehr nah beieinander. Das werden die Protagonisten sein. Aber die zwei Fahrer von Sky sind richtig stark. Es wird nicht einfach, sie erst zu isolieren und dann auch zu schlagen.

Wenn Sie an der Stelle von Sky wären, würden Sie jetzt Geraint Thomas zur Nummer 1 machen?

Foto: Sunweb

Iwan Spekenbrink

Der 42-jährige Niederländer ist als CEO der Equipe Sunweb tätig, eines deutschen Radsportteams mit Sitz im niederländischen Deventer, das 2005 entstanden ist. Sunweb unterhält auch ein Frauenteam.

Nein. Ich weiß nicht genug. Bei Sky haben sie sicher Prognosen, wie sich Froome entwickeln wird in den kommenden Tagen und wie Thomas sich entwickeln wird. Diese Informationen habe ich nicht. Wenn man nur auf das Hier und Jetzt schaut, dann ist das erst mal komfortabel. Thomas hat fast zwei Minuten Vorsprung. Allerdings spielt auch die Erfahrung eine große Rolle. Froome hat vier Grand-Tour-Siege, er weiß, wie man solche Rundfahrten hintereinander fährt und gewinnt. Das spricht für ihn.

Interessant ist aber auch, dass Thomas wieder Zeit gewann gegenüber Froome. Das ist eine bemerkenswerte Taktik. Mal sehen, was da weiter passiert. Jeder hat seine eigene Taktik.

Ist es realistisch, zu erwarten, dass die beiden jetzt gegeneinander fahren könnten?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Wir sind im Profisport, und das große Ziel ist, die Tour zu gewinnen. Und es ist zweitrangig, wer aus dem Team das gewinnt. Ich gehe davon aus, dass Sky einen guten Plan dazu hat.

Es ist also weiter ein Vorteil für Sky, zwei so starke Fahrer zu haben – und nicht ein ­Nachteil, weil gerade der 1b-Leader vor dem 1a-Leader ist?

Wenn sie die Prioritäten richtig setzen, wenn der Gewinn der Tour de France als Team die höchste Priorität ist, dann ist es für sie eine Kraft, solche starken Fahrer zu haben. Und wenn es anders ist, wenn es doch zu ­Rivalitäten kommt, dann wird es für die Konkurrenz nicht un­bedingt einfacher, aber es wird weniger optimal für Sky. Ich gehe davon aus, dass sie die Prio­ritäten in einer guten Reihenfolge haben.

Tom Dumoulin ist Zeitfahrweltmeister, er hat das Zeit­fahren auf der vorletzten Etappe also noch als Vorteil für sich. Wie viel kann er da auf Froome oder Thomas noch gutmachen?

Das kann man jetzt noch nicht sagen. Froome ist ein exzellenter Zeitfahrer, und Thomas ist darin auch sehr gut.

Sie gehen jetzt aber nicht davon aus, dass Sky schon die Frankreich-Rundfahrt gewonnen hat?

Wissen Sie, ich kann verstehen, dass Leute oft denken, dass man, wenn man gute Fahrer hat, die Rennen auch gewinnt. Aber man darf nicht vergessen: Es geht über drei Wochen. Das sind alles Menschen. Man darf nicht krank werden, nicht stürzen, muss jeden Tag top Beine haben. Da werden Tage kommen, an denen es für uns schwierig wird. Aber es werden auch Tage kommen, an denen es für Sky schwierig wird.