Buchprojekt: „Wie ich wurde, wer ich bin“: Meine Geschichte erzähle ich selbst

Als könnten sie nicht selbst erzählen, wird meist über und nicht mit Menschen mit geistiger Behinderung gesprochen. Ein Buchprojekt macht es endlich anders.

Hildegard Wittur sitzt auf dem Sofa in ihrer Wohnung, von ganz vielen Kuscheltieren umgeben

„Ich kenne viele Menschen, weil ich immer hilfsbereit und lustig bin“, sagt Hildegard Wittur, hier in ihrer Wohnung Foto: Sandra Merseburger

Seit über 20 Jahren arbeitet David Permantier als Sozialarbeiter mit lernbehinderten Menschen im betreuten Einzelwohnen der Lebenshilfe in Kreuzberg und früher auch in anderen Bezirken. Er unterstützt sie nach individuellem Bedarf im Alltag und in den verschiedensten Lebenslagen, das reicht von der Unterstützung in der Haushaltsführung über die Organisation einer Tagesstruktur bis hin zur Begleitung in Krisen und bei gesundheitlichen Problemen. Aufgefallen ist ihm bei seiner Arbeit vor allem eines: „Es gibt zu jedem Klienten Berge von Berichten. Sie sollen einen Menschen beschreiben, Lebensdaten werden gelistet, Stationen aufgeführt und das Verhalten analysiert.“

Zahlen, Daten, Fakten: Nur ansatzweise, sagt Permantier, wird nach dem Studium der Akten etwas vom gelebten Leben nachvollziehbar. Und wie es den Menschen formt.

Im Gespräch ergibt sich ein ganz anderes Bild. Das betrifft auch den Sozialarbeiter selbst: „Ich verstehe mich als Vermittler zwischen Klient und Umfeld. Auch wir müssen uns erst kennenlernen – denn auch unsere Lebenswelten berühren sich kaum.“

Wieso kommen die sogenannten geistig Behinderten kaum vor, nach allem, was sie in den Versuchs- und Tötungsprogrammen der Nazis erleben mussten? Sie werden in Heimen versorgt, in Ämtern verwaltet. Die meiste Zeit wird nicht mit ihnen, sondern über sie geredet wird. Permantier will genau erfahren, wer seine Klienten sind, was sie beschäftigt, wie sie denken. Er entwickelt einen Fragenkatalog, führt Interviews, will die individuelle Sicht darstellen und anderen zugänglich machen. Die Arbeit an den Texten wird durch die jeweiligen Bezugsbetreuer begleitet.

Biografien von Menschen, die behindert wurden

Ist der behinderte Blick ein anderer? Das Buch ist eine wichtige Lektüre für die ganze Gesellschaft. „Als professioneller Unterstützer hast du es in der Regel mit zwei Vorurteilen zu tun. Das eine lautet: „Ihr trinkt die ganze Zeit Kaffee.“ Das andere: „Das könnte ich ja nicht, mit so Leuten arbeiten.“

Jürgen Kiontke ist der Lektor des Buchprojektes „Wie ich wurde, wer ich bin. Biografien von Menschen, die behindert wurden“, herausgegeben von David Permantier; die Porträts hat Sandra Merseburger fotografiert.

Das Buch ist gegen eine Schutzgebühr von 4,90 Euro erhältlich bei: Zukunftssicherung Berlin e. V. für Menschen mit geistiger Behinderung, Georg Engel, Mierendorffstraße 25, 10589 Berlin, Tel.: 030/221 91 300 0, E-Mail: gengel@zukunftssicherung-ev.de. (taz)

Beides zeige ihm, wie separiert Menschen leben müssen. Der Buchtitel „Wie ich wurde, wer ich bin. Biografien von Menschen, die behindert wurden“ kündet davon, wie normal Ignoranz und Exklusion sind. Und überhaupt: Ist Behinderung nicht zum Teil Ansichtssache? Der Mann auf dem Cover des Buches will mit auseinandergebreiteten Armen fliegen – wer kann das schon? Aus der Position des Vogels etwa sind alle Menschen behindert.

Unterstützung für seine Projektidee bei der Suche nach Fördermitteln sowie bei der Auswahl findet er bei Georg Engel von Zukunftssicherung Berlin e. V. für Menschen mit geistiger Behinderung. Die Aktion Mensch finanziert das Biografieprojekt mit 5.000 Euro.

Wer sind die Menschen, die hier schreiben? Sie sind Teil des Lebens des Sozialarbeiters. Zum Beispiel Hildegard Wittur (siehe Foto oben), Kind von alkoholkranken KZ-Überlebenden; Permantier begleitet sie seit 25 Jahren als Betreuer. Sie ist Mitglied jener Kunstwerkstatt, die Permantier im Auftrag der Berliner Lebenshilfe leitet.

Die Erzähler stammen aus Ost und West

Kersten Wolter war Permantiers erster Klient überhaupt. Er fasst sein Leben, geprägt von der Knute der strengen Großmutter, so zusammen: „Ich war einfach nicht so, wie sie es gerne gehabt hätte, da half keine Prügel.“

Die sogenannten geistig Behinderten werden in Heimen versorgt, in Ämtern verwaltet. Die meiste Zeit wird nicht mit ihnen, sondern über sie geredet. Dabei kann niemand ihre Geschichten so gut erzählen wie sie selbst. Das einzigartige Biografieprojekt „Wie ich wurde, wer ich bin“ macht neun dieser Geschichten zugänglich.

Auf der Veranstaltung wird daraus gelesen, die ErzählerInnen sind zum Teil vor Ort. Lesende sind David Permantier, Betreuer bei der Lebenshilfe e. V. und Initiator des Projekts, sowie Glinda Spreen, Betreuerin bei der Zukunftssicherung e. V.; Moderation: Manuela Heim, Redakteurin der taz.

Der Veranstaltungsort ist barrierefrei zugänglich. Das Gespräch wird in Gebärdensprache übersetzt. Außerdem twittert das Team von taz.leicht in Leichter Sprache. Die Lesung findet am Mittwoch, dem 15. August, um 18.30 Uhr im taz café, Rudi-Dutschke-Straße 23, statt. Der Eintritt ist frei. (taz)

Oder Eva Müller, die von der Zukunftssicherung betreut wird: Sie inszeniert sich auf dem Autorenfoto als Freiheitsstatue: „Bei meiner Geburt waren meine Hände zusammengewachsen und ich hatte ein Loch in der Herzscheidewand.

Die Geschichten ihrer Behinderungen, Beziehungen, und Arbeit bilden auch ein Ausschnitt der Berliner Zeitgeschichte ab: Die Erzähler stammen aus Ost und West. „Sie zeigen, wie unser Leben in unterschiedlichen Systemen unter verschiedenen Bedingungen funktioniert“, sagt Permantier.

Das Buch – ein Verlag wird noch gesucht – lässt Menschen von ihren Kämpfen und Träumen berichten. Es soll Einblick geben in jene Welten, die sich hinter den Zuschreibungen der „geistigen Behinderungen“ verbergen.

Dieser Text ist Teil eines mehrseitigen Schwerpunktes mit drei der neun Biografien von Menschen, die behindert wurden – in der taz.berlin am wochenende vom 11./12. August 2018.

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