das ding, das kommt
: Stadtweites Gedicht

Mit der Sprühdose in Bremen hinterlassene Graffiti: keine Schmierereien, sondern alle zusammen ein Gedicht, predigt die dortige Kulturkirche Foto: THOR/Wikimedia Commons

Die großen Zeiten der Spraydose waren vorbei, als Deutschlehrer und Korrektoren plötzlich anfingen, das Unwort „Graffito“ als korrekte Singularform des „Graffiti“ anzumahnen. Bis dahin waren die Sprayer unter sich, wussten zwar nichts von der Einzahl (man wollte ja eh nicht eins, sondern die ganze Stadt dichtmalen), dafür aber alles über „Cans“ und ihre Sprühaufsätze: die „Caps“ von „Super Skinny“ bis „Ultra Fat“. Manche hatten einen Lautsprechermagnet unter der Dose, um die verräterische Klackerkugel ruhig zu stellen. Und die Masken, die man trug, die waren schwarz und sollten einen verbergen – heute gibt es solche Atemschutzdinger.

Naja, die Spraydose ist inzwischen jedenfalls bürgerlich geworden. Graffiti heißt Street-Art und erfreut sich allgemeiner Beliebtheit. Als in Hamburg vor ein paar Jahren jemand einen Banksy übersprüht hatte, schrieb sogar die taz, ein „Kunstwerk“ sei „beschmiert“ worden.

Und in Bremen wandert seit einer Weile Pastorin Isabel Klaus durch die Straßen und sichtet die Tags und Sprüche für ihre Predigten. Am Sonntag steht der große Höhepunkt an: der Graffiti-Gottesdienst „Die tätowierte Stadt“. Als Alltagspoetin verstehe die Pastorin Graffiti als Botschaften, heißt es, und lese sie als ein stadtweites Gedicht.

Diese Würde hat die Kunstform aus dem Hip-Hop, wo es neben Rap und Breakdance und so weiter ein selbstverständliches und vor allem selbstgenügsames Tun war: identitätsstiftend für eine der letzten echten Jugendkulturen. Die Stieber Twins haben mal gerappt, ihr Konzept sei „präziser wie Skinny Caps“ und alle hatten verstanden, was Musik mit Farbe an Hauswänden zu tun hatte. Das ist zwar lange vorbei, irgendwie Kunst ist das Sprühen aber geblieben. Herzlich egal, was da im Einzelfall nun steht.

Es ist doch erstaunlich, wie das Malen und Schreiben im öffentlichen Raum immer wieder dazu einlädt, Form und Inhalt zu verwurschteln. Hat Graffiti per se etwas zu sagen? Kaum. Ein Schriftzug nahe des Bremer Hauptbahnhofs fordert seine Leser auf, ihr Geld nach Bedürftigkeit zu vererben. An die Gedenkstätte beim U-Boot-Bunker Valentin haben irgendwelche Arschlöcher vor ein paar Monaten „Stoppt den Schuldkult“ gesprüht. Und plötzlich freut man sich dann doch, heute über das Graffito im Singular reden zu können. Das geht aber nur, solange das hippe Genre nicht den Blick auf seine Einzelteile verstellt. Jan-Paul Koopmann

So, 19. 8., 18 Uhr, Kulturkirche St. Stephani, Bremen