Comic-Kurzgeschichten: Ein kleiner Junge wird vermisst

Von Urlaubern und Robotern: Für seine Storys findet Manuele Fior kontrastreiche Dramaturgien, um Bild mit Text zu verweben.

Ausschnitt aus einem Comic: Abgebildet ist der Flughafen Tempelhof

Manuele Fior hat in Berlin gelebt. Hier sucht ein Vater seinen Sohn auf dem Tempelhofer Feld Foto: Avant Verlag

Die Weite des Tempelhofer Felds kann beängstigend sein. Wenn ein junger italienischer Vater auf dem riesigen Gelände in Berlin herumirrt und seinen kleinen Sohn sucht, stürmt eine Flut von Gedanken auf ihn ein. Nur mal kurz eine SMS geschrieben, schon ist der Kleine auf seinem Fahrrad weggedüst. Von einem Plakat lächelt Angela Merkel auf den Verzweifelten herunter, der über die Deutschen nachdenkt. Der Flughafen Tempelhof, unter den Nationalsozialisten erbaut, erscheint im plötzlich als „eine Art Petersplatz der Nazis“.

Der 1975 geborene italienische Comiczeichner Manuele Fior hat in den Nullerjahren in Berlin gelebt, und so fließt auch manche autobiografische Erfahrung aus dieser Zeit mit ein in die Comic-Kurzgeschichten, die im Band „Die Tage der Amsel“ gesammelt sind. Oft handeln diese in den letzten zehn Jahren in diversen Magazinen veröffentlichten Geschichten von Urlaubern oder Reisenden.

In einer Geschichte erfahren Fior und seine Begleiterin während eines Urlaubs, dass eine Touristin verschwunden ist. Sie treten die Flucht vom Urlaubsort an, doch erreichen sie nun andauernd Horrornachrichten von Verkehrsunfällen. Am Ende wird doch alles gut.

In der nur zwei Seiten langen, lieblich gezeichneten „Postkarte aus Oslo“ schreibt eine junge Frau an ihre verlassene Geliebte, wie gut es ihr alleine in Norwegen gehe und dass sie gerade neu zu leben beginne. Beim Blick aus dem Fenster fällt ihr ein Holzhaus auf, das wenige Panels weiter lichterloh brennt. Ist sie eine Pyromanin?

Die Offenheit der kurzen Form regt Manuele Fior zu solch mehrdeutigen Geschichten an. Der Text steht oft im Widerspruch zum Bild oder kann auch ganz banale Vorgänge beschreiben, die zusammen mit dem Bild eine intelligente Kombination ergeben. In Paris hadert eine italienische Lehrerin mit ihrem Schicksal, da sie eine ihrer Ansicht nach strohdumme Klasse durch die Stadt zu führen hat. Ihr Kollege wiederum ist abgeklärt und philosophiert vor sich hin. Das Porträt dieser Personen ist Fior lebensnah und komisch zugleich geraten. Am Ende verweigert sich die Lehrerin, ihr Los weiterhin zu ertragen.

Detailreichen Hintergründe

Immer wieder variiert Manuele Fior seinen Zeichenstil, testet in jedem Comic einen neuen Stil aus. Von hohem Wiedererkennungswert sind die ausdrucksstarken Charakterköpfe fast jeder einzelnen Figur, sowie die meist detailreichen Hintergründe. In einer kurzen Geschichte, die in zarten Pastelltönen gehalten ist, wird ein Maler Ende des 19. Jahrhunderts porträtiert, dem in der Langeweile des Kuraufenthalts auf Ischia die Ideen auszugehen scheinen. Doch gerade dort wird er Inspiration für sein berühmtestes Motiv, „Die Toteninsel“, schöpfen. Unschwer ist so Arnold Böcklin zu erkennen.

Manuele Fior: „Die Tage der Amsel“. Avant Verlag, Berlin 2018, 104 Seiten, 22 Euro

„Großmutter und Enkel“ wiederum hat dokumentarischen Charakter, die Bilder erinnern an Schwarz-Weiß-Fotografien. Erzählt wird von den Erfahrungen mehrerer Generationen laotischer Einwanderer in Paris, die im Off zitiert werden. Während die Großmutter noch Indochina- und Vietnamkrieg erlebt hat und sich in Europa eine neue Existenz aufbauen musste, ist der Enkel heute zerrissen zwischen den Kulturen. Auf nur sechs Seiten gelingt es Fior, das Schicksal einer Familie von Kriegsflüchtlingen einzufangen und ihr unspektakuläres heutiges Leben mit ihrer chaotischen, von Leid geprägten Vergangenheit zu kontrastieren.

Oft variiert Manuele Fior seinen Zeichenstil, testet in jedem Comic einen neuen Stil aus

In der längsten Geschichte „Die Tage der Amsel“ knüpft Fior an seine Graphic Novel „Die Übertragung“ von 2013 an. Während ein Ingenieur ein Marmor-Bergwerk besucht, das geschlossen werden soll, ist er innerlich mit drohenden Korruptionsvorwürfen beschäftigt. Unversehens wird er mit einem übernatürlichen Phänomen konfrontiert … Reales und Irreales liegen bei Fior dicht beieinander. In der letzten Geschichte, „Gare de l’Est“, herrscht nur auf dem ersten Bild Ruhe. Doch die frontale Ansicht des Pariser Bahnhofs wird durch das Auftauchen eines japanischen Riesenroboters gestört, der sich in einem brutalen Kampf mit einem weiteren befindet. Die urbane Kulisse, die beim studierten Architekten Manuele Fior oft eine Hauptrolle spielt, wird durcheinandergewirbelt, Autos und Busse fliegen durch die Luft, die Reaktionen der Menschen ähneln denen beim Aufschrei im Kinosessel eines aktuellen Blockbusters.

Manuele Fior führt mit seinen Comic-Shortstorys erneut vor, dass er ein vielseitiger Künstler ist, der auf unterhaltsame Weise komplexe, irritierende Geschichten erzählen kann, die den Leser zum Nachdenken oder Weiterträumen anregen können.

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