Buch „Denn sie sterben jung“: Das Ende der Sorglosigkeit

Ein Clan aus der mexikanischen Oberschicht löst sich auf. Ruíz Camachos Buch ist ein schonungsloser Blick auf eine von Privilegien verwöhnte Klasse.

Der Palacio de Bellas Artes im Historischen Zentrum Mexiko-Stadts

Ein Palast in Mexiko Stadt, hier wohnen allerdings die schönen Künste Foto: imago/Westend61

Seinem Roman „Denn sie sterben jung“ hat Antonio Ruiz Camacho den Stammbaum der Familie Arteaga und ihrer Hausangestellten vorangestellt. Der 1973 in Toluca, Mexiko geborene Schriftsteller erzählt in acht Episoden vom Ende der Sorglosigkeit einer bürgerlichen Großfamilie in Mexiko Stadt. Als das Familienoberhaupt José Victoriano Arteaga gekidnappt wird, verlässt die nachfolgende Generation aus Angst vor weiteren Entführungen fluchtartig das Land, nach Spanien und in die USA.

In einzelnen Kurzgeschichten, die sich zu einer facettenreichen Gesamterzählung zusammenfügen, verhandelt der Autor in Momentaufnahmen das Schicksal von Familienangehörigen, Bediensteten und der Geliebten des Patriarchen. Vor dem Hintergrund seines gewaltsamen Todes entsteht aus den verschiedenen Perspektiven ein vielstimmiges, ganz und gar disharmonisches Familien- und Gesellschaftsporträt.

Ruíz Camacho arbeitete zunächst als Journalist in Mexiko, bevor er in die USA auswanderte. Heute lebt er in Austin, Texas. Sein nun in deutscher Übersetzung vorliegendes Romandebüt „Denn sie sterben jung“ (original „Barfoot Dogs“) verfasste der Autor auf Englisch. Aus der in den USA gewonnen Distanz entwickelt er einen schonungslosen Blick auf eine von Privilegien verwöhnte und von Ignoranz geprägte Klasse in seinem Herkunftsland. Nach der Ermordung erleben seine Protagonisten, auf fremdem Terrain gestrandet, die Auflösung jeder Gewissheit über sich und die Welt um sie herum.

Der für die deutsche Ausgabe gewählte Titel und auch der mit Totenköpfen verzierte Einband der deutschen Ausgabe jedoch werden diesem Roman nicht wirklich gerecht. Zu holzschnittartig wirken die für die Vermarktung mexikanischer Literatur gerne verwendete folkloristische Ornamentik mit Anspielung auf Gewalt und organisiertes Verbrechen. Denn besonders bemerkenswert in diesem Erstlingswerk Ruíz Camachos ist die Auseinandersetzung mit der mexikanischen Realität außerhalb Mexikos sowie den damit einhergehenden Transformationen.

Pinkeln als Befreiungsschlag

In „Okie“, der zweiten Geschichte des Buches, erlebt der achtjährige Enkel José Victorianos den verstörenden Neuanfang in der Fremde. Er begreift nicht, warum seine Familie aus Mexiko in das sehr viel bescheidenere Haus nach Kalifornien umziehen musste. Auch Josefina, die alte Hausangestellte, seine engste Vertraute, kann es ihm nicht oder will es ihm nicht erklären. Ohnmächtig den Veränderungen in seinem Leben ausgeliefert, verstummt Bernardo in der neuen Schule in Palo Alto zunächst.

Doch die bedrängende Fürsorge der Klassenlehrerin Misses Brinkmann und die Ratschläge von Ambrose, seiner recht schroffen Mitschülerin, erweisen sich für den Jungen als unerwartet hilfreich. In einem Befreiungsschlag pinkelt er vor den Augen seiner Mutter der Schwimmlehrerin auf den Kopf. Erst nach dieser „krassen“ Aktion, verrät die Mutter Bernardo bei einem Burger mit Milchshake endlich, warum sie Mexiko verlassen mussten.

Antonio Ruiz Camacho: „Denn sie sterben jung“. Aus dem Englischen von Johann Christoph Maas. C.H. Beck Verlag, München, 2018, 205 Seiten, gebunden, 19,95 Euro

In einer der letzten Erzählungen verfolgt Ermelinda, die Hausangestellte des einst gefürchteten, ältesten Sprosses der Arteagas, den Zerfallsprozess aufmerksam: „Jetzt stehe ich direkt vor ihm, neben seinem verdreckten, zerwühlten Bett, lausche seinem entgleisten Atem, nicht weit vom Ersticken entfernt, und beobachte anhand seines Untergangs den seiner Familie.

Er kann meine Tränen nicht sehen. Und auch mein Gleichmut entgeht ihm.“

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