die woche in berlin
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Im Straßenverkehr getötete RadfahrerInnen lassen Emotionen hochkochen. U-Bahnhöfe für Obdachlose zu verschließen ist zynisch. Dass in Neukölln Ermittlungen nach rechten Anschlägen eingestellt werden, ist gerade jetzt eine ganz falsche Botschaft. Und Michael Müller gibt den Traum von einer Bebauung des Tempelhofer Feldes nicht auf

Eine Frage der Erwartung

R2G und
die Radwende

Wenige Tage nachdem ein Radfahrer an der Kastanienallee in die Straßenbahnschienen geriet und von einem Lkw überrollt wurde, sollte ein BSR-Mitarbeiter die Blutlache, auf die ein Bindemittel gestreut war, mit dem Besen wegfegen. Der Mann brachte es nicht über sich, er rief einen Kehrwagen. Danach legte er die Blumen, die er sorgfältig zur Seite gelegt hatte, wieder an ihre Stelle. Eine rührende, traurige Szene.

Radfahrerinnen und Radfahrer, die im Straßenverkehr ums Leben gekommen sind, setzen gerade Emotionen frei. Auch in Kommentaren in dieser Zeitung, nachdem am Montag der zehnte Radfahrer an der Mollstraße, Ecke Otto-Braun-Straße überfahren und getötet wurde. Radfahrer versus Lkw, das kann einen nicht kalt lassen, auch wenn es, wie meist, gerade noch einmal gut ausgeht.

Zu den Emotionen tragen aber auch die Erwartungen bei, die der rot-rot-grüne Senat mit der angestrebten Verkehrswende geweckt hat. Nicht nur der Ausbau der Radwege, sondern auch geschützte Radstreifen (protected bike lanes) und sogar eine „Vision Zero“, also den Rückgang tödlicher Radunfälle auf null, hatte die von den Grünen gestellte Verkehrssenatorin Regine Günther in Aussicht gestellt. Nun muss sie sich fragen lassen, was davon umgesetzt wurde.

Zwar hat Berlin inzwischen ein in ungewöhnlichem Tempo verabschiedetes Mobilitätsgesetz. Aber das ist Papier. Auf den Straßen ist davon noch nicht viel sichtbar, und so – so empören sich manche – geht jeder weitere tote Radfahrer auch auf das Konto des Senats.

Das ist ungerecht, natürlich. Erst recht, wenn man weiß, dass den zehn toten Radlerinnen und Radlern in diesem Jahr siebzehn Tote aus dem Jahr 2016 gegenüber stehen.

Gleichzeitig muss Senatorin Günther aber auch signalisieren, dass das Thema für sie oberste Priorität hat, dass sie auch den Bezirken Dampf macht. Berlin wird, ob es dem Senat passt oder nicht, nun an Fahrradstädten wie Kopenhagen gemessen. Das Rumgeeiere etwa an der Schönhauser Allee, wo die Verwaltung vor dem Autoverkehr eingeknickt ist, ist kein ermutigendes Signal.

Mag sein, dass der Erfolg des Senats für andere Parteien von anderen Fragen abhängt. Die Grünen und Regine Günther aber werden daran gemessen, ob sie Berlin spürbar zu einer fahrradfreundlichen Stadt machen können. Uwe Rada

Es geht auch noch zynischer

BVG will keine Obdach-losen in U-Bahnhöfen

Obdachlose sollen im Winter nicht mehr in U-Bahnhöfen Unterschlupf finden, weil sie eine Zumutung für die zahlende Kundschaft seien. Diese Debatte haben in dieser Woche – etwas weniger zugespitzt formuliert, aber inhaltlich deckungsgleich – die Berliner Verkehrsbetriebe angestoßen. Es ist ein zynisches Bild für die Spaltung unserer Gesellschaft. Aber es geht noch zynischer.

Wenn Obdachlose auf verwaisten Baugerüsten schlafen, unter Hochparterre-Balkonen, auf U-Bahn-Sitzen, in S-Bahn-Aufgängen, in Zelten in Grünanlagen, dann meist nur solange, bis sie vertrieben werden – irgendwo anders hin. Inzwischen sind es aber so viele, dass irgendwo anders immer auch genau hier bedeutet. Vertreiben hilft nicht mehr.

Das gilt auch im Winter, wenn laut Senat genug Notschlafplätze vorhanden sind – von denen aber die meisten nur in der Nacht genutzt werden dürfen und die viele Obdachlose nur ansteuern, wenn wirklich gar nichts mehr geht. Und für psychisch angeschlagene und süchtige Menschen ohne Obdach sind die Viel-Personen-Zimmer mit Drogenverbot ohnehin nicht tauglich.

Vielleicht sind es genau diese Menschen, die eine in der Nacht geöffnete U-Bahn-Station zumindest vor dem Kältetod bewahrt. Zynisch also, dies mit Hinweis auf fehlende Sanitäreinrichtungen und Sozialarbeiter zu verwehren.

Genauso zynisch aber ist es, sich damit zufriedenzugeben, dass Notplätze und Behelfslösungen in dieser Stadt zur Dauereinrichtung für Menschen ohne Obdach werden. Es gibt genau ein Wohnheim in Berlin, das alkoholkranken Obdachlosen eine dauerhafte Heimat bietet – ohne Wertung, ohne Alkoholverbot. 46 Plätze hat die Einrichtung, die Warteliste ist lang.

Vor diesem Hintergrund wird die Diskussion um die Öffnung der BVG-Stationen bei kalter Nacht zur Grundsatzdebatte. Welche Art von Hilfe ist wirklich angemessen? Wollen wir uns damit abfinden, dass ein wachsender Teil der Gesellschaft in dieser Stadt keinen würdevollen Platz zum Leben hat? Das geht, andere Millionenstädte beweisen es. Aber Achtung: Dafür braucht es sehr, sehr viel Zynismus. Manuela Heim

Eine andere Botschaft ist nötig

Gegen rechte Gewalt muss ermittelt werden

So schnell wie Ermittlungen aufgenommen sind, werden sie auch wieder eingestellt. Mal wegen mangelnden öffentlichen Interesses, mal wegen des Fehlens jeglicher Spuren oder Verdächtigen, mal, weil es sich eben um Bagatellen handelt, die ohnehin nur auf dem Papier verfolgt wurden.

Was aber in den vergangenen zwei Jahren in Neukölln geschehen ist, erfüllt keine dieser Bedingungen. Die mutmaßlich extrem rechts motivierte Anschlagserie auf zivilgesellschaftliche AkteurInnen und LokalpolitikerInnen verdient höchstes öffentliches Interesse, und mehrere Verdächtige sind sogar namentlich bekannt. Dass die Berliner Ermittlungsbehörden zudem brennende Autos ganz und gar nicht als Bagatelle ansehen, haben sie in anderen Zusammenhängen wiederholt unter Beweis gestellt.

Die Staatsanwaltschaft hat sicher gute Gründe, Ermittlungen in der Sache einzustellen, die Kritik der Betroffenen ist jedoch mehr als nachvollziehbar. Schließlich hat Innensenator Andreas Geisel (SPD) die Attacken als politische Kriminalität eingeordnet, deren Aufklärung hohe Priorität haben soll. Dass gleichzeitig auch der Objektschutz intensiviert wird, zeigt, dass eine Wiederholung der Taten nicht nur für möglich, sondern von den Sicherheitsbehörden offenbar für wahrscheinlich gehalten wird. Die Ermittlung der Verantwortlichen für die Anschläge sollte da, aller Logik folgend, doch ein absoluter Imperativ sein.

Im Zuge des Maaßen-Skandals ist viel von verlorenem Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Sicherheitsorgane die Rede. Es braucht aber gar kein Versagen in Sachen NSU, groß angelegte Aktenschredderei, offensichtliche politische Verzerrungen und bizarres Postengeschacher. Manchmal genügt schon ein lapidarer Einstellungsbescheid, um jenen, die engagiert um unsere Demokratie und offene Gesellschaft kämpfen, Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Was ansonsten ein relativ normaler Verwaltungsakt ohne jede Böswilligkeit ist, wird so schnell Teil eines gesellschaftlichen Klimas, dass antifaschistisch Aktiven den Eindruck vermitteln muss, dass die Bedrohung, die von rechts ausgeht, weiterhin sträflich unterschätzt wird. Die Aussendung einer solchen Botschaft kann doch kaum die Absicht der Berliner Staatsanwaltschaft sein, oder?

Daniél Kretschmar

Traum und Trauma

Bebauung des Tempelhofer Felds

Bis heute hat Michael Müller es nicht überwunden, den Volksentscheid gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes im Mai 2014 verloren zu haben. Immerhin weiß der heutige Regierende Müller, was der damalige Stadtentwicklungssenator Müller falsch gemacht hat: „Wir wollten zu viel“, sagte er am Mittwoch vor Unternehmern in der IHK. Sprich: zu viele Wohnungen an zu viel Rändern des einstigen Flugfelds und heutigen Parks. Und dazu noch einen Bibliotheksneubau.

Aber Müller arbeitet hart auf Versuch zwei hin: In der nächsten Legislaturperiode, die 2021 beginnt, werde das Thema wieder eine Rolle spielen, orakelt er. Denn der Druck auf den Wohnungsmarkt wachse unnachgiebig.

Dummerweise ist nirgendwo geregelt, wie lange ein vom Volk via Entscheid beschlossenes Gesetz Bestand haben soll oder muss; wann es also durch einen neuen Volksentscheid oder vom Abgeordnetenhaus wieder geändert werden kann. Prinzipiell ist das jederzeit möglich, politisch gesehen Sprengstoff erster Güte für Rot-Rot-Grün. Plant der Sozialdemokrat Müller, über die Bürger hinweg zu regieren? Das würde dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Umgang mit der direkten Demokratie widersprechen.

Die grüne Fraktionschefin Antje Kapek beeilte sich am Mittwoch denn auch zu sagen, dass Voraussetzung für eine Bebauung ein weiterer Volksentscheid sein müsse. Es ist nicht ganz ersichtlich, ob dies eine Klarstellung oder eine Warnung an die SPD war.

Tatsächlich leistet Müllers Orakelspruch der Einschätzung Vorschub, der Senat schere sich wenig um den Wählerwillen; ein Eindruck übrigens, der schon 2014 herrschte und zu dessen Niederlage beim Volksentscheid beitrug. Natürlich fehlen Wohnungen in Berlin, aber es gibt auch noch genügend andere Flächen, die auf ihre Bebauung warten. So wirkt der Vorstoß wie eine kindische Drohung an die linke Bausenatorin Katrin Lompscher: Wenn diese nicht genug Wohnungen baue, müsse halt das Feld dran glauben.

Vielleicht war Müller aber auch schon lange nicht mehr auf dem Tempelhofer Feld. Dann wäre ihm bewusst, dass die Fläche eines der letzten Beispiele für Cool Berlin ist; ein Image, dass die Stadtwerber gerne gegen die grassierende Gentrifizierung verteidigen wollen. Wenn irgendwann so gut wie alles zugebaut ist, kann man – vielleicht – in Berlin noch wohnen, aber nicht mehr gut leben. Bert Schulz

Wenn irgendwann so gut wie alles zugebaut ist, kann man – vielleicht – in Berlin noch wohnen, aber nicht mehr
gut leben

Bert Schulzüber Michael Müllers Wunschtraum, auf dem Tempelhofer Feld doch noch zu bauen