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Sanktionierungsdruck und Totaldurchleuchtung

„25 Jahre Berliner Tafel: Ein Grund zum feiern?“, taz vom 8. 9. 18

Die Funktion der Tafel erinnert in ihrer Auswirkung an den als „innerdeutsche humanitäre Hilfe“ bezeichneten Gefangenenfreikauf ostdeutscher politischer Häftlinge durch die BRD. Diese Wirkung war vor allem ambivalent. Einerseits wurde damit unmittelbarer Not erfolgreich abgeholfen, andererseits so die strukturelle Gewalt und politische Entmündigung zementiert und sogar Anreiz für ein zynisches Geschäftsmodell geschaffen, für das man einfach die Gesetze verschärfen oder verschärft auslegen konnte.

Bei der Tafel mag die ökonomische Profitabilität der Verantwortlichen gering oder sogar gar nicht vorhanden sein, doch das auf Überproduktion basierende Wirtschaftssystem profitiert davon vor allem moralisch: Es kann damit sein schlechtes Gewissen beruhigen und sich einreden, dass zum einen Hartz IV einschließlich seiner sanktionierenden Kürzungsbeträge immer gut zum Leben reicht und zum anderen nichts vergeudet und alles letztlich einem Nutzen zugeführt wird. Zur Tafel kommen aber all die Hilfsbedürftigen, die von anderen an der Armut verdienenden Organisationen verwaltet, belehrt und ab und an für einen Kurzzeitjob vermittelt werden. So schließt sich der Kreis der Rundumversorgung notorischer Unselbstständigkeit und sozialer Entmündigung. Statt die Menschen zu Souveränen ihres Lebens auszubilden, werden sie dauerhaft am Tropf von Hilfsorganisationen und Kurzjob-Vermittlungsagenturen gehalten.

In der DDR endete die ambivalente Hilfe des Freikaufs erst mit dem Sturz des gesellschaftlichen Systems, vielleicht ergeht es der Tafel in gewisser Hinsicht nicht anders. Die Einführung des bedingungslosen, mit sinnvollen Tätigkeitsangeboten (nicht Zwängen!) gekoppelten Grundeinkommens könnte ein solcher Sturz sein, freilich nicht der des gesellschaftlichen Systems, aber der des Sozialsystems, das trotz Sanktionie-rungsdruck und Totaldurchleuchtung groteskerweise als eines der besten in der Welt gilt. Wolfram Hasch, Berlin

Eine rotweingefärbte Migranten-Dystopie

Enklaven für Menschen mit Migrations­vordergrund

Ich wohne in Kreuzberg. Hab hier schon als Philosophiestudent in derselben Straße gewohnt. Mal an der HU, mal an der FU Vorlesungen besucht, in Pankow Schach gespielt, mal im Prenzl’berg ausgegangen. Damals, Anfang der 2000er, hab ich mich meiner körperlichen Unversehrtheit wegen nach Sonnenuntergang nie nach Hohenschönhausen, Lichtenberg, Bernau oder Oranienburg begeben, und schon gar nicht weiter östlich oder nördlich. Bei meinen Türken und Arabern hab ich mich schon ziemlich sicher gefühlt.

Ich bin dann aus Berlin weg und vor einigen Jahren zurückgekehrt. Arbeite heute ab und zu in Bernau, Lichtenberg und meistens in Kreuzberg. Fühl mich sicher. Ich dachte tatsächlich, dass der offene und versteckte Rassismus, die körperlichen Übergriffe, Glatzen in der BVG der Vergangenheit angehörten. Also, sagte ich mir, bist du zum richtigen Zeitpunkt in die richtige, in deine Stadt zurückgekehrt.

Das Ding ist nur, dass Berlin in einem Land liegt, das noch andere Städte und ländliche Gegenden hat. Wenn ich etwas mehr Rotwein getrunken habe, male ich mir aus, dass in zwanzig Jahren, da bin ich fast sechzig, Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt und vielleicht München noch Enklaven für Leute wie mich sein könnten. In diesen Städten leben dann vorwiegend Leute, die ein etwas dunkleres, etwas runderes Gesicht, etwas krauseligeres Haar haben. Hier sind wir sicher. Der halb latente, halb offen geführte Bürgerkrieg findet außerhalb der Enklaven statt. Die rot-rot-grüne Regierung Berlins hat zu meinem fünfzigsten Geburtstag einen elektrischen Zaun mit biometrisch-biografischen Kontrollstationen um Berlin errichtet. Keiner kommt rein, der Gewalttaten oder extremistische Äußerungen begangen hat oder einer extremistischen Organisation angehört. Zum Schutz der Bevölkerung mit Migrationsvordergrund.

Vor Berlin, in Hoyerswerda, Halle, Dresden, Neubrandenburg oder Chemnitz, marodieren die Identitären, verüben linksextreme Guerillakämpfer Anschläge auf Regierungsgebäude, deren Abgeordnete mehrheitlich der Koalition aus AfD und CSU angehören. In dieser rotweingefärbten Dystopie hat sich die CSU von der Union losgesagt und ihre eigenen Parteizentralen in den Bundesländern aufgemacht. Diese wurden dann von Pegidisten und Identitären unterlaufen, was wiederum zu Bündnissen mit der AfD geführt hat.

Wenn ich auf die letzten zwanzig Jahre zurückschaue, dann find ich diese Version auch nicht so abwegig. Rostock-Lichtenhagen: Die Glatzen sahen da echt komisch aus, und waren in der Unterzahl. Danach kam der „Aufstand der Anständigen“. Große, einstimmige Koalition der Demokraten.

Solingen. Mölln. NSU. Marine Le Pen. Geert Wilders. Viktor Orbán. Regierungsbildung mit der FPÖ. AfD im Bundestag. Chemnitz: Die Glatzen haben keine Glatzen mehr, sehen irgendwie ganz fesch und ganz normal aus. Vertreter der demokratischen Parteien: „Ich verstehe die Wut der Menschen“, „Migration ist die Mutter aller Pro­bleme“… Semantische Diskussionen darüber, ob da nur gejagt oder schon gehetzt wird. Mir läuft es kalt den Rücken runter.

Mein Unbehagen wächst. Zum Glück wohne ich in Berlin! Vorgestern in Hamburg stehen 10.000 Menschen circa 175 ganz feschen und normal-besorgten Bürgern gegenüber. Atme auf und aus! Aber in der paranoiden Ecke meines Hirns überlege ich mir, ob es nicht doch sinnvoll ist, die Eigentumswohnung in Berlin zu verkaufen. Nicht dass es mir so geht wie damals den Juden. Die haben’s ja nicht kommen sehen. Vielleicht das Geld in Gold investieren oder in der Schweiz anlegen? Das wäre ja dann flexibles Kapital, auf das ich von Kanada oder Sri Lanka aus zugreifen könnte.

Okay, noch sind wir nicht da. Glaub ich. Vielleicht sollte ich einfach morgen früh in eine rote oder grüne Parteizentrale gehen und mich informieren, ob es irgendwelche Zaunpläne für die nahe oder ferne Zukunft gibt. Ich weiß, dass die Idee gerade in Berlin problematisch erscheinen könnte. Aber die müssten mich ja auch verstehen. Berlin fühlt sich an wie Heimat. Ich möchte mich in meiner Heimat sicher fühlen, und vor allem möchte ichsienicht verlassen. In Kanada soll’s guten Schnaps geben, aber da war ich noch nie. Trung Hoang Le, Berlin