Die sinnentleerte Mitte

In Berlin fehlt die DNA der Altstadt, auch wenn viele sie im Schloss sehen wollen. Was Krieg und DDRhaben stehen lassen, sind bauliche Spurenelemente als Zeugen des Verlusts. Ein Blick zurück

Sinnentleerte Mitte mal anders. Das Reichstagsgebäude als hohler Zahn. Frank Thiel: „Stadt 5/03 (Berlin)“, 1996Foto: Foto: VG Bild-Kunst, Bonn, courtesy: Künstler und Galerie Blain Southern, Berlin/London

„Mitte“ klingt in Berlin wie ein Versprechen: Man fährt nach „Mitte“, um sich zu amüsieren, Bars und Restaurants aufzusuchen; Erlebnisgastronomie, Kultur zu „erleben“; wie ja heute alles und jeder Ort darauf ausgerichtet ist, etwas zu erleben. Erleben klingt immer ein wenig so wie erarbeiten, erschaffen; man tut etwas, für sich selbst und für das, was man urbanes Leben nennt. Man beteiligt sich direkt und indirekt – als Flaneur, Konsument, Zuschauer oder Akteur – an dem, was unsere Erlebniskultur fordert: einen kulturellen Mehrwert schaffen.

„Mitte“ bedeutet aber auch Nukleus; also Kern von etwas. Mitte heißt woanders schon mal „Altstadt“ oder City. Damit ist etwas verbunden: eine Art genetischer Kern der Stadt, ein Ort, eine aus Bau und Raum zusammengesetzte Topografie, welche die jeweils wechselnde Geschichte der Städte absorbiert und weitergegeben hat, von der die Impulse zum Wachstum, zur Entwicklung – räumlich, ökonomisch, kulturell, geistig, intellektuell – ausgingen. In der Regel sind diese Orte Schrittmacher und Motor für das Gefüge Stadt, sie sind darüber hinaus identitätsstiftend, weil bild– und erinnerungsträchtig, aufgeladen mit Geschichte(n), mit Mythen, mit Anekdoten.

Beim Stichwort „bildträchtig“ fängt das Dilemma an; das unserer Zeit in unserer Stadt. In Berlin. – Zunächst bewegt man sich – nicht nur in „Mitte“ – in „Straßen“ oder „Plätze“ genannten Räumen der Stadt; die Straßen sind quasi die Korridore, in oder auf denen man sich bewegt. Plätze wiederum fungieren als Entschleuniger, sie bremsen die Motorik des linear Gehenden und meist Fahrenden; das transitorische Moment der Straßen wird hier räumlich gleichsam infrage gestellt. Der Blick richtet sich nicht mehr auf den Fluchtpunkt am Ende des Korridors Straße, sondern wird abgelenkt in links oder rechts sich aufweitende Raumkompartimente, eben Plätze genannt. Ihnen ist das Moment des Verweilens baulich-räumlich eingeschrieben. Genau dies geschieht in Altstädten.

Frankfurt zum Beispiel „eröffnet“ gerade seine „neue Altstadt“. Schon dies klingt bedrohlich, man zuckt förmlich zusammen: „Frankfurt hat sich eine neue Altstadt gebaut, am nächsten Wochenende wird sie offiziell eröffnet.“ Dies die Überschrift über einem Bericht dieser Tage, der den Lesern die „Idee Altstadt“ für Frankfurt zu erläutern sucht. „Eine Altstadt eröffnen“: Also doch wieder „Erlebnis“. Event. Ausstellung. Festival. Wettkampf. Das Bild Altstadt wird wortreich gelüftet, Sehnsuchtsbilder werden werbetextbegleitend entschleiert, Geister beschworen.

Das dazugeschaltete Bild des Textes ist bezeichnend: Im Hintergrund Frankfurts hochhausbewehrte downtown, zu ihren Füßen das Glücksversprechen aus spitzgiebligen Dächern, Gauben, Fassaden mit verrahmten Fensteröffnungen, Sprossen, Kranzgesimsen und Profilen. Gassen und Gassenaufweitungen (Plätzchen) werden gesäumt von analog zum verschwundenen Bestand errichteten Fassaden. Hoher Niedlichkeitskoeffizient garantiert. Eine Altstadt wie ein Modell ihrer selbst: begehbar, anfassbar, antiseptisch, laktose- und keimfrei, bestaunbar. Frankfurts durch Krieg, Nachkriegszerstörungen und Architekten vollständig vernichteter genetischer Kern: hier wird er simuliert.

Mein Verhältnis dazu ist ambivalent: Ich mag mich nicht auf die Seite der Kritiker schlagen, die gebetsmühlenartig einer mutwilligen Moderne das Wort reden – aber auch nicht auf die der bedingungslosen Befürworter, die keinen anderen Weg als diese Operation erkennen und in der neuen Altstadt die altneue DNA der Stadt – eine Mischung aus Trostversprechen, verschorfter Tradition und getrockneter Schönheit – aktivieren wollen.

In Berlin fehlt diese Altstadt-DNA ebenso (auch wenn viele sie im Schloss sehen wollen); was Krieg und Nachkriegsplanungen der DDR haben stehen lassen, sind bauliche Spurenelemente als Zeugen des Verlusts; „bauliche“, eben weil „räumliche“, geschweige denn „baulich-räumliche“ unter Straßen und Verkehrsschneisen verschwunden sind, begraben. Ernst Jünger schrieb einst: „Unsre Städte sind stärker von Architekten als von Bomben ruiniert. Die Bombe zerstört schlimmsten Falles bis zum Grunde, der Architekt von Grund auf.“ Dieser Befund ist in der „Mitte“ Berlins noch immer spürbar. Die die Stadt einstmals generierende Parzellenlogik mit Einzeleigentümern und -Bauherren – der entscheidende Teil der DNA – ist großflächig überbaut und zerstört. Die die Straßen begleitenden „Fassaden“ genannten Raumeinfassungen, quasi die Innenwände des der Öffentlichkeit überantworteten Raumes, folgen in ihrer monotaktischen Reihenlogik entweder den Grundrissen der Gebäude, dem Büroraster, oder den traumatischen, in ihrer Jugend erfahrenen Schlüssellocherlebnissen der Architekten. Zu den Rändern der Stadt hin sieht es im Prinzip nicht anders aus. Wo großflächiger gebaut wird, fehlt die nachvollziehbare baulich-räumliche Logik, die die Städte weltweit bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt hat: Jede Stadt zwar ihrem eigenen genetischen Kern folgend, aber doch grundiert mit der verbindenden Idee der Folge Haus – Straße – Block – Platz. Das Urgen einer jeden Stadt.

Das Haus selbst als kleinster Baustein. Mit einer Physiognomie (Fassade), die so wenig Eitelkeit und Stilisierung wie möglich, dafür aber umso mehr Neutralität, als verantwortliche Geste allen Stadtbewohnern gegenüber, zur Schau trug. Das Individuelle war in der Regel „nur“ eine Variation im Lineament; das Ergebnis: Vielfalt in der Einheit. Dieses „nur“ ist mithin das Mehr, nennen wir es den ästhetischen Mehrwert. Das hat viele Städte dort, wo wir uns heute in ihnen bewegen, schön gemacht. Schön gewöhnlich, schön alltäglich, so schön normal. Zum Beispiel Berliner Mietshausquartiere aus dem 19. Jahrhundert. Und wer wollte nicht, dass unsere Städte schön sind – neben dem Umstand, dass wir uns es leisten können sollten, in ihnen zu leben, heißt, die Miete aufbringen zu können.

Warum diese Ausführungen an dieser Stelle? Heute? In einer Zeit, in der der Ruf nach der verlorenen Berliner Altstadt lauter wird? In den zwei Jahren, in denen ich, gleich zu Beginn der 90er Jahre, das Vergnügen hatte, für die neu geschaffenen Berlinkultur-Seiten der taz als Redakteur mitverantwortlich zu zeichnen, habe ich, zuständig für Stadtkritik und Architektur (das hat die taz seinerzeit gezielt gewollt und sich geleistet, heroisch, oder?), genau diese Diskussion, analog zu den Diskussionen und Grabenkämpfen der Planer, Architekten und Bürokratievertreter aus Ost und West, begleitet, kommentiert, abzubilden versucht in Text und Bild.

Glücksversprechen aus spitzgiebligen Dächern, Gauben und Sprossen

Die Aufgaben für die Stadt nach dem Fall der Mauer waren enorm, sie waren neu, sie waren der Zündstoff für die Frage: „Welche Stadt wollen wir?“ Bei der Diskussion um die Stadtentwicklung, mit dem Fokus auf die Architektur, habe ich auch versucht, die Themen darauf zu fokussieren, was materiell, was baulich bleibt, wenn alle Ideologien verschwunden und alle Traumata der Planer erledigt sind. Es ging in der Debatte um die Naht- respektive Grenzstellen, die plötzlich aufgerissenen und schrecklich öden Wüsten zwischen Ostberlin und Westberlin; es ging um die großen Wettbewerbe, um die Vorstädte, um die Domestizierung der Interessen von Developern und Immobilienhaien, um den Versuch, den enormen Druck seitens der Behörden zu lenken und zu moderieren.

Meinerseits habe ich hier und da versucht, den genetischen Kern der Stadt Berlin zu benennen: die Struktur von Block – Straße – Haus und das Berliner Mietshaus als Typus – und die aus beiden resultierende spezifische Dichte. Und die spezielle Schönheit des Alltäglichen, die aus ihnen erwächst.

Was meines Erachtens heute Not tut? Jenseits der pragmatischen Notwendigkeiten und Aufgaben bezahlbare Wohnungen zu bauen, müssen wir auch darüber, nachdrücklich und vermehrt, sprechen: über die Schönheit der Stadt. Denn hässliche Städte machen krank.

Martin Kieren war 1990/91 Redakteur der Berlinkultur-Seite. Heute lehrt er Architekturgeschichte an der Beuth-Hochschule Berlin