Trockener Blick auf feuchte Augen

Anne Collier arbeitet mit vorgefundenem Material, setzt sich mit der kalkuliert emotionalen Bildsprache in Popkultur und Frauenbildern in Technikwerbung auseinander. Das Sprengel-Museum zeigt die erste institutionelle Einzelausstellung der US-amerikanischen Fotografin

Dechiffrieren und isolieren. Immer wieder fällt Colliers kühler Blick auf Sentimentales wie Tränen: „Woman Crying # 18“ (l) und „Tear (Comic) # 2“ Fotos: Anne Collier

Von Bettina Maria Brosowsky

Als eines der ersten Kunstmuseen Deutschlands gründete das Sprengel-Museum in Hannover 1993 eine eigene Abteilung für Fotografie. Bereits seit seiner Eröffnung im Jahr 1979 hatte das Haus immer wieder Ausstellungen namhafter Fotografen gezeigt. Wohlgemerkt: männlicher Fotografen. Der Schwerpunkt lag auf amerikanischer Lichtbildnerei der 1960er- bis 1980er-Jahre „im dokumentarischen Stil“.

Diesen Begriff wiederum hatte Walker Evans in den 1930er-Jahren kreiert und damit betont, dass sein fotografischer Bildzugriff eine, wenngleich äußerst reservierte, subjektiv künstlerische Interpretation der Wirklichkeit darstelle – keine Dokumentation. So etwas würden die Polizeifotografen am Tatort machen.

Diese Zeiten maskulinen Hagestolzes scheinen vorbei. Und auch die Ausstellungspraxis des Sprengel-Museums sowie seine fotografische Sammlung wissen mittlerweile weibliche Positionen zu schätzen: von Diane Arbus etwa bis hin zu zeitgenössischen Fotografinnen wie Heidi Specker, Elisabeth Neudörfl, Rineke Dijkstra.

Radikal verändert hat sich während der letzten Jahrzehnte aber auch die Fotografie selber. Aus der „demütigen Dienerin“, wie Charles Baudelaire sie im 19. Jahrhundert noch despektierlich einschätzte, ist eine selbstbewusste Kunst geworden, die in Museen, Sammlungen und relevanten Kunstschauen wie der Documenta ihren spektakulären Einzug hielt. Die inzwischen schier unüberschaubaren Bildreservoire der Fotografie, besonders wenn die Spielart kommerzieller, aber durchaus kunstfertiger Fotos hinzugezählt wird, bilden nun den Fundus für künstlerische, systemimmanente Selbstreflektionen.

Befragt wird die Wirkung der Bilder, ihr unmittelbar emotionales und persuasives Potential in der massenmedialen Verbreitung, aber auch eine gesellschaftliche Definitionsmacht bis hin zur Zementierung stereotyper Rollenbilder, etwa der Frau. Den Finger in genau diese Wunde legt seit einigen Jahren die US-amerikanische Fotokünstlerin Anne Collier, der das Sprengel-Museum derzeit ihre erste institutionelle Personale in Deutschland ausrichtet.

Anne Collier arbeitet nicht mit eigenen Bilderfindungen, sondern mit vorgefundenem, zielgerichtet gesammeltem und aufwendig bearbeitetem Material. 1970 in Los Angeles geboren, ist sie in der Blütezeit der „appropriation art“ sozialisiert, nennt Cindy Sherman, Sherry Levine oder Robert Prince ihre Erstkontakte mit der Kunst.

Das sind alles Künstler*innen, die sich bereits Vorhandenes aneigneten, reproduzierten, verfremdeten. Das konnte ganz konkret geschehen – Sherry Levines abfotografierte Walker-Evans-Bilder etwa waren erst kürzlich im Sprengel-Museum zu sehen, just dort, wo Collier nun ausstellt – oder als thematische Reprisen, wie Cindy Shermans nachgestellten und überzeichneten Posen aus Filmklassikern oder Meisterwerken der Kunstgeschichte.

Zu Colliers Kindheit gehörte aber auch die Arbeit ihres Vaters als Journalist bei der amerikanischen Navy sowie ein familiäres Interesse an Musik und Schallplatten, Magazinen, Comics und medialer Populärkultur. Früh schärfte sich so ihr Blick auf eine kalkuliert emotionale Bildsprache, die in diesen Bereichen vorherrscht. Wohl nicht erst während des Kunststudiums in Kalifornien fing sie an, entsprechendes Bildmaterial zu sammeln, zu kategorisieren und mit kühl analytischer Präzision die visuellen Strategien zu sezieren.

Ein schier endloses Thema ist die offensichtlich unausrottbare Rolle der Frau als sexualisiertes Accessoire in der Technikwerbung. Collier nahm sich etwa die amerikanische Werbung der 1970er-Jahre für Fototechnik in einschlägigen Journalen vor. Und fand Frauen, die sich leichtgeschürzt bis nackt entblößt in allen möglichen Posen räkeln, so, als wären sie das einzige, unausweichliche Motiv, das mit den beworbenen Kameras, Objektiven oder Stativen zu erfassen wäre.

Collier re-fotografiert diese bunten Magazinblätter in professioneller Studiotechnik, fertigt jeweils einen mittelgroßen Abzug, der wiederum gescannt wird und zu einem manchmal mehrere Quadratmeter großen Bildwerk in klassisch fotografischem Verfahren übersetzt wird. Durch diese technischen Prozeduren wird die fotografische Vorlage, etwa in ihrer optischen Körnigkeit, als Konstrukt überdeutlich herausgearbeitet, aber auch ihre vulgäre bis pornografische Ästhetik, da das Bild nun freigestellt und in anderem kulturellen Kontext präsentiert wird.

Diese Methode multipler Dechiffrierung und Isolierung dekliniert Collier in diversen Genres durch, findet auf Plattencovern oder in Comics etwa das vergleichsweise harmlose sentimentale Muster tränender Frauenaugen, das sie als Ausschnitt vergrößert. Manches gerinnt so zur grobgerasterten Pop Art à la Roy Lichtenstein. Oder sie lässt im Foto eine Schallplatte sanft aus einer Marilyn-Monroe-Hülle gleiten, ganz so, als wäre die derangiert verführerisch inszenierte Interpretin dadurch auch leibhaftig verfügbar.

Natürlich lässt sich diese genderthematische Fokussierung mit dem Prädikat „Feminismus“ belegen, die den weiblichen und den männlichen Blick ganz unterschiedlich fordert. Aber der Foto-Kurator und der Direktor des Sprengel-Museums täten besser daran, damit nicht eine aktuelle Akzentverschiebung der Ausstellungspolitik zu beweihräuchern. Anne Collier, glücklicherweise nicht auf den Mund gefallen, pariert derartige Versuche. Sie sieht sich erst einmal als „Foto-Nerd“, will in ihren fotografischen Strategien aus individuellem, auch biografischem Material auf kulturelle oder universelle Phänomene schließen. Und klar, sie sei dabei Feministin: so wie jede Frau, die arbeitet oder ein Auto fährt.

Bis 6. Januar 2019, Hannover, Sprengel-Museum.Gespräch mit Christoph Girardet zum Thema „Appropriation“: Di, 11. Dezember, 18.30 Uhr