„‚Weiße Modelle‘ nennen wir unsere Modelle, denn bewusst schützen wir sie vor einer voreiligen Realitätsnähe“

Fassadenmodell einer Gebäudeecke.Strukturmodell. Bild: E2AStrukturdetail im Fassadenmodell. Bild: E2AModell der Netzhaut. Bild: Jon Naiman Bild: Jon Naiman

Text: Wim Eckert

Es gibt verschiedene Formen von Paranoia. Die gängigste Art ist die einer psychischen Störung, in deren Mittelpunkt Wahnbildungen stehen. Die Betroffenen leiden an einer verzerrten Wahrnehmung ihrer Umgebung und unter Angstzuständen einer ihnen gegenüber feindseligen Haltung. Paranoia war aber auch eine Punkband aus Dresden, die 1982 aus der Gruppe Rotzjungen entstand und die bis Mitte der achtziger Jahre im gesamten Staatsgebiet der DDR Konzerte gab.

Aus dem Rotzbubenalter sind wir schon lange raus und Punks sind wir nun auch nicht mehr, aber paranoid bleiben wir trotzdem. Wir haben immer noch Angst, Häuser zu bauen, von denen wir nicht alle Ecken kennen. Das Unbekannte ist immer ein Wagnis, auf das man sich erst einlassen muss. Häuser zu bauen ist auch ein Wagnis. Man muss sich ein Haus zuerst vorstellen, seine bauliche Umsetzung, seine materielle Dimension, um schließlich die Detaillierung ins Auge zu fassen. Diese tautologische Verschachtelung nennt man dann gemeinhin Planung.

Die Honorarordnung für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI) sieht verschiedene Planungsphasen vor, deren Umfang genau festgeschrieben ist. Zuerst erfolgt die Vorplanung, dann die Entwurfsplanung mit der entsprechenden Genehmigungsplanung und die fortschreibende Planung, in Form einer Ausführungsplanung. Diese Planungsphasen sollen genügen, um einen Bau so zu definieren, damit er von der Vorstellung in die Realität umgesetzt werden kann. Die Garantie, dass das, was man gedacht hat, auch sichtbar wird, kann die klassische zweidimensionale Repräsentation von Architektur jedoch nicht mehr leisten, weil ihr immer mindestens eine Dimension abhandenkommt. Wir versuchen uns deshalb dem Unbekannten langsam anzunähern und es möglichst physisch sichtbar und erlebbar zu machen. Wir trauen da keinem exklusiven Medium, sondern glauben, dass alle Medien genutzt werden müssen, um der geplanten Vorstellung näher zu kommen. Aus diesem Grund bauen wir ganz kleine, dann etwas größere, große und ganz große Modelle. Wir glauben, dass das Modell das ideale Mittel ist, sich einer gebauten Wirklichkeit anzunähern.

Unsere Modelle sind keine Werke, die den Anspruch erheben, sich in die Welt der Architektur einzuordnen. Stattdessen liefern sie uns ein Ordnungssystem, welches für uns einen Aspekt der Welt der Architektur sichtbar macht. Sie bilden deshalb nicht eine verkleinerte Realität ab, sondern isolieren vielmehr eine bestimmte von uns ausgewählte Ordnung in geeigneter Größe. Die Vorstellung aus der barocken Welt, dass das Modell nicht die Verkleinerung der Wirklichkeit, sondern dass vielmehr die Wirklichkeit die Vergrößerung des Modells sei, hilft uns dabei.

Unseren Modellen fehlt immer etwas. Sie kümmern sich nicht um alles, sondern nur um eines. Sie liefern uns Aufschluss, das Spezifische kenntlich zu machen. Sie liefern in einer ihnen eigenen Sprache eine Sichtbarkeit, die weder mit der Architektur, noch mit Sprache sichtbar würde. Sie etablieren deshalb ihre eigene Welt. Sie sind eine Form der Reduktion auf eine spezifische Wesentlichkeit, die es erlaubt, sich immer nur auf einen bestimmten Aspekt der Wirklichkeit konzentrieren zu können. Sie sind eine Art Vorzimmer oder Warteraum der Architektur, in welchem diese noch unbelastet und frisch ist und noch nicht zu ihrer ganzen Sprachlichkeit gefunden hat.

Sie konstruieren für uns den wortlosen Dialog, den wir mit der realen Welt zu führen haben, ohne sich dabei jemals der wahren Welt stellen zu müssen. Sie sind nicht wahr, und wir wissen um die Qualität dieser Unwahrheit. Sie erlauben, gerade weil sie nicht wahr sind, die Konstruktion einer ganz neuen Wahrheit. Diese stumme und neue Wahrheit liefert, im Gegensatz zur realen Welt, eine vollkommen konzentrierte Realität, die sich erst dann mit der eigentlichen Welt messen kann. Somit entsteht eine Dialektik zwischen einer konkreten Alternative und der eigentlichen Realität. Ohne diese stumme Welt scheint uns eine Konstruktion einer neuen Realität kaum möglich zu sein.

Für den Neubau der taz haben wir ganz unterschiedliche Modelle gebaut. Solche, die den gesamten nachbarlichen Kontext um die Friedrichstraße miteinbeziehen; solche, die den Bau lediglich als strukturelles System darstellen; solche, die eine Etage von innen nach außen repräsentieren; solche, die den Bau in einem Ausschnitt von oben bis unten zeigen und Modelle, die einen einzigen Knoten der Netzhaut thematisieren. All diese Modelle bauen wir immer ganz in Weiß, um zu vermeiden, ihnen verfrüht eine konkrete Materialität zuzumuten. „Weiße Modelle“ nennen wir unsere Modelle, denn bewusst schützen wir sie vor einer voreiligen Realitätsnähe.

Wenn wir genug solcher Versuchsanordnungen gemacht haben, trauen wir uns zu, den ersten Schritt in die Realität zu tun. Zunächst lassen wir eine theoretische Ecke des Hauses wirklichkeitsgetreu von den beauftragten Unternehmern anfertigen. Theoretisch deshalb, weil diese Ecke immer alle möglichen Konstellationen beinhalten muss. Wir nennen sie deshalb auch unsere „Angstecke“. Anhand dieser einen Ecke lassen wir uns dann das gesamte Haus zeigen und vervielfältigen die entsprechenden Detaillösungen – aus der einen Ecke heraus – über den gesamten Bau.

Architektur ist eine sehr langsame Disziplin, man plant immer rund zwei Jahre und baut immer auch mindestens zwei Jahre. Wir nehmen uns deshalb viel Zeit und lassen das Haus entstehen und langsam zu sich kommen. Unsere weißen Modelle sind das Werkzeug dieser Annäherung, sie zeigen nie alles, sondern kontrollieren immer nur einen bestimmten Aspekt, wodurch ein Haus entsteht, das zwischen Kontrolle und Toleranz oszilliert. Wir bauen so eine mentale Hierarchie auf zwischen dem, was es ganz genau zu bestimmen gilt und zwischen dem, was Freiheit und Unbestimmtheit bedarf. Man sieht es unseren Häusern auch an: Sie leben genau zwischen diesen beiden Polen und erlauben es dem Nutzer, sich das Haus anzueignen – oder, wie es bei der taz notwendig war, es für sich zu besetzen.