Befreiung von was?

Verschiedene Generationen: Wolfgang Engler und Jana Hensel erforschen ebenso verstörend wie inspirierend Ostdeutschland

Wolfgang Engler/Jana Hensel: „Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 288 S., 20 Euro

Von Stefan Reinecke

Dieses Buch ist befremdlich, inspirierend, auf jeden Fall ungewöhnlich. Ein älterer Mann und eine jüngere Frau unterhalten sich in zehn Kapiteln über Ostdeutschland. Wolfgang Engler, Kultursoziologe und lange Rektor der Schauspielschule Ernst Busch, war 37 Jahre, als die Mauer fiel, die Journalistin Jana Hensel war 13. Bekannt wurde sie 2002 mit „Zonenkinder“, einer Art Autobiografie der ostdeutschen Wendekinder. Diese persönlichen Angaben sind hier von Belang. „Wer wir sind“ ist ein Sachbuch, das Gespräch dafür eine merkwürdige Form, aber in diesem Fall eine überzeugende. Es erlaubt den leichthändigen Wechsel der Sprechweisen, ein verflochtenes Ineinander von Theorie und Meinung, von soziologischer Analyse und Erlebtem. Das Ganze ist der Versuch, Ostdeutschland in kreisenden Bewegungen verständlich zu machen. Das könnte geschwätzig sein. Aber dieser Text hat, jedenfalls in den ersten zwei Dritteln, etwas Strenges an sich, ist eher geistige Übung als Geplauder.

Die Rollen sind verteilt. Hensel ist die Linksliberale, die stolz auf Merkels Flüchtlingspolitik ist, Engler der linkskonservative Skeptiker, der wie viele Ostdeutsche in Merkels „Wir schaffen das“ vor allem „Ihr badet das aus“ hörte. Merkels Flüchtlingspolitik, die es ja nur einen kurzen Herbst über gab, hat im Osten wie ein Enzym gewirkt, das Entfremdungsprozesse katalysierte, die derzeit nicht mehr reversibel scheinen. Dieses Buch lädt, jedenfalls Westdeutsche, nicht allzu oft zu zustimmendem Nicken ein. Mitunter scheint weniger Pegida als die empörte Reaktion auf Pegida und die Assoziationskette Pegida-Dresden-Osten das Kardinalproblem zu sein. Engler, einer der scharfsinnigsten Analytiker des Ostens nach der Wende, empfiehlt gegen die Neigung zur AfD der politischen Linken beherztes Engagement für mehr soziale Gleichheit. So wünschenswert das ist, so fragt sich doch, ob die Abneigung gegen Fremde in Ostdeutschland (und Osteuropa) nicht noch ganz andere Gründe hat.

Der bundesdeutschen Öffentlichkeit bescheinigt Engler eine Tendenz zur „Gleichschaltung“, was nah am AfD-Sprech siedelt und das Gefühl spiegelt, es schon wieder mit einer Diktatur zu tun zu haben, auch wenn es eine aus Meinungen ist. Engler korrigiert sich im Gespräch rasch selbst: Gleichschaltung sei eine „unzulässige Übertreibung im Eifer des Disputs.“ Das ist das Bemerkenswerte dieses Buches. Man kann zweien, die die Wahrheit weniger beanspruchen als suchen, beim Verfertigen der Gedanken, beim Probieren und Verwerfen von Ansichten zuhören. Es ist ein Diskurs in Zimmerlautstärke. Das ist gerade in einem Moment erfreulich, in dem die Meinungsbassboxen vibrieren.

Der verstörendste Satz stammt von Hensel. „Der Erfolg der AfD stellt, mal ganz wertfrei gesagt, die bisher größte Emanzipationsleistung der Ostdeutschen dar“. Eine Emanzipation von was? Vom liberalen Westen? Eine Befreiung – wohin?