Splitter-Identitäten

Man kannte Sasha Marianna Salzmann als Dramatikerin. Dann landete ihr Romandebüt „Außer sich“ 2017 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Nun wurde es im Gorki uraufgeführt

Sesede Terziyan, Kenda Hmeidan als die Zwillinge Ali und Anton und Margarita Breitkreiz in „Außer sich“ Foto: Ute Langkafel/Gorki Theater

Von Barbara Behrendt

Der Geschmack von verdorbenem Hähnchenfleisch steckt Ali jedes Mal in der Kehle, wenn sie eine Grenze passiert. Das Reisen erinnert ihren Körper daran, wie sie damals, als Kind, in den 1990ern, mit Eltern und Zwillingsbruder als Kontingentflüchtling aus Russland nach 36-stündiger Fahrt in Deutschland aus dem Zug stieg: Der Boden schaukelt, das Hähnchenfett „zittert ihr im Rachen, klettert aus dem Magen wieder zurück in ihren Mund“ – bis Ali es ihrem Onkel Leonid, der die Neuankömmlinge am Bahnhof in Empfang nimmt, geradewegs auf die Schuhe kotzt.

Auf der Bühne erzählt Alis Mutter Valja diese Geschichte. In altmodischem Russenschick steht sie mit ihrem Mann Kostja an der Rampe, die ununterscheidbaren, androgynen Zwillinge mit Kinderperücken und Ringelpulli an sich gepresst. Immer wieder bahnt sich das verdorbene Hähnchen den Weg in Alis Rachen, im Roman wie auf der Bühne – ob bei der Fahrt zu den russischen Großeltern oder bei Alis Reise nach Istanbul, wo sie ihren verschollenen Zwillingsbruder Anton sucht, der nicht gefunden werden will.

Alis Würgen beim Grenzübertritt steht durchaus im Zusammenhang mit Sasha Marianna Salzmanns Schreiben gegen alle Grenzziehungen, gegen festgeschriebene Identitäten. Ihr Erzählen ist anarchisch und sinnlich überbordend, auch exzentrisch und überdreht. Sie wechselt zwischen Dialogen und erlebter Rede, dazwischen Rückblenden aus den Blick­winkeln unterschiedlicher Figuren.

Naheliegend, dass Regisseur Sebastian Nübling daraus eine freie Szenencollage entwirft. Auf 50 Seiten und die wichtigsten Schlüsselereignisse hat Dramaturgin Anna Heesen (nicht Salzmann selbst!) den 350-seitigen Roman destilliert. Mit Falilou Seck und Anastasia Gubareva als Eltern- und Großelternpaar blitzen drei Generationen sowjetischer Geschichte in Miniszenen auf: Die Liebesheirat der Großeltern Etja und Schura, die arrangierte Ehe der Eltern Valja und Kostja – ­schließlich soll für Kostja eine anständige jüdische Frau gefunden werden. Seck weidet den Untergang Kostjas später etwas zu sehr aus, wenn er eine Ewigkeit mit der Schnapsflasche wedelt und Ali dutzendfach auf die Mailbox spricht, bevor er sich aus dem Fenster stürzt. Noch ein Trauma, das Ali mit sich herumträgt.

„Außer sich“, das zeigt sich in diesen wenigen Szenen, ist auch eine Geschichte über Mi­gration und jüdische Identität. Doch Nübling konzentriert sich stark auf das fragmentierte Ich, die Wurzellosigkeit in der eigenen Biografie. Sesede ­Terziyan und Kenda Hmeidan spielen die Zwillinge und gleichen sich in ihrer Statur so sehr, dass man sie für ein und dieselbe Person halten könnte. Sind Anton und Ali eins? Der Roman erzählt schließlich auch von Geschlechtsumwandlung: Ali beginnt in Istanbul Männerklamot­ten zu tragen, sich Hormone zu spritzen, damit ihr Barthaare wachsen. So wie Katho sie hat, den sie bei ihren nächtlichen Streifzügen durch die Bars kennenlernt.

Margarita Breitkreiz spielt diesen Katho überspannt bis in alle Glieder – doch es bleibt in diesen 140 Minuten selten, dass Nübling, eigentlich ein sehr physisch arbeitender Regisseur, das Außer-sich-Sein wirklich in die Körper überträgt.

Breitkreiz spricht zudem auch Alis Texte, während Mehmet Ateşçi zwischendurch den erwachsenen Anton spielt – wer den Roman nicht kennt, ist bald ratlos und verwirrt.

Magda Willis hochsymbolische Bühne nimmt die Verwirrung auf. Bühnenportal steht hier vor Bühnenportal, als befände sich Welt in Welt in Welt. Den Raum teilt eine Spiegelwand, hinter der sich ein zweiter Raum verbirgt, jede Sicht ist vielfach gebrochen und unendlich vervielfältigt. Manchmal tauchen Figuren hinter den Spiegelungen der Spieler auf: Männer in glitzernden Frauenkleidern, mit weißen Masken, wie Phantome, Geister. Davor steht die Musikerin Polly Lapkovskaja und spielt russische Melodien auf ihrem Bass.

Eine Zeit lang sieht man gern dabei zu, wie sich mit Alis Eltern und Großeltern das alte Russland vorstellt, wie sich die beiden Alis in Istanbuls Nachtleben verlieren, wie Brüste abgebunden und Hormonspritzen gesetzt werden. Doch die grenzenlosen Blickwinkel und Einschübe, die den Roman auszeichnen, werden der Inszenierung spätestens in der zweiten Stunde zum Verhängnis, wenn sich nur noch Szenensplitter beliebig an Szenensplitter reiht. Die Selbstfindung der Figuren wirkt zunehmend pubertär, ihre Wut behauptet. Das ziellose Analysieren ihrer Identität, ihres Geschlechts, über das am Ende nur noch schlaff um den Tisch herumsitzend schwadroniert wird, lässt den Abend letztlich zäh zerfasern.