„Das ist illegal“

Um so viele Geflüchtete wie möglich abzuschieben, bescheinigen Behörden den Betroffenen, gesund und reisefähig zu sein. Dabei sind sie seelisch schwer traumatisiert. Das Prozedere ist ein Skandal und rechtswidrig, sagt der Psychoanalytiker Hans Wolfgang Gierlichs

Wer erlebt, dass sein Haus weggebombt wird, wie dieses hier in Damaskus, kann schwere Traumata erleiden Foto: Hassan Ammar/ap

Interview Anett Selle

taz: Herr Gierlichs, Sie prüfen als Psychoanalytiker und Mitglied der Härtefallkommission Nordrhein-Westfalen Gutachten von Fachleuten zu Geflüchteten. Wie viele haben Sie bisher gesichtet?

Hans Wolfgang Gierlichs: In 5.000 bis 6.000 Fällen habe ich so gut wie nie ein Gutachten über die Reisefähigkeit von Geflüchteten gesehen, die von Experten ausgestellt waren, die eine spezielle Fortbildung hatten. Aber: In dem großen Pool der deutschen Psychiater gibt es sehr viele einfühlsame Fachleute mit Fortbildungen – nur die werden kaum gefragt.

Stattdessen haben die Behörden ein Netzwerk aus begutachtenden Ärzten aufgebaut, die ihrem Willen entsprechen. Die bescheinigen Reisefähigkeit bei nahezu jedem. Die Behörden stehen unter enormem Druck, weil immer gesagt wird, es würde zu wenig abgeschoben. Insofern kann man verstehen, wie sie handeln. Aber rechtens ist das nicht.

Wie erklären Sie sich dieses Vorgehen?

Wenn man die Ausnahmejahre 2015 und 2016 als Ausreißer betrachtet, haben wir durchschnittlich 100.000 Asylbewerber pro Jahr. Bezüglich Bürgerkrieg, Genozid und Regimen mit Folter kommen weltweit unzählige wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Schluss, dass mindestens 30 bis etwa 40 Prozent der Bevölkerung eines betroffenen Landes traumatisiert sind.

Untersuchungen in Deutschland haben ergeben, dass etwa 35 bis 40 Prozent der Asylsuchenden unter einer akuten Traumatisierung leiden. Jetzt stellen Sie sich mal vor, man würde anerkennen, dass von 100.000 Menschen mindestens 30 Prozent unter einer Krankheit leiden, die sie reiseunfähig macht. Dann hätten Sie 30.000 Menschen pro Jahr, die einen Aufenthalt kriegen müssten. Und eine Therapie. Das ist teuer. Deswegen sagt man einfach, die Menschen seien gar nicht krank. Sonst müsste man ja zur Unmenschlichkeit der Entscheidungen stehen. Ich habe Hunderte Fälle vergewaltigter Frauen gesehen, die zurückgeschickt wurden.

Die sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gilt seit dem Asylpaket II im Jahr 2016 nicht mehr als Abschiebehindernis.

In diesem Paket steht die erstaunlich Feststellung, dass bei PTBS regelmäßig eine schwerwiegende Erkrankung nicht ­angenommen werden könne, formuliert von Verwaltungsbeamten. Das hat zu intensivem Ärger geführt, auch zu Protesten der Bundesärztekammer und der Psychotherapeutenkammer. Aber die haben alle nichts gebracht. Diese Formulierung ist jetzt Grundlage sämtlicher Briefe, die Ausländerbehörden schreiben.

Wie äußert sich die Posttraumatische Belastungsstörung?

Sie ist eine ernsthafte Erkrankung, die auftritt, wenn ein Mensch etwas erlebt hat, was er nicht verarbeiten kann. Etwas, das die Verarbeitungsfähigkeit des Gehirns übersteigt. Dann schaltet sich das Gehirn teilweise ab, das Erlebte wird nicht normal gespeichert und kann folglich nicht verarbeitet werden. Es ist keine Vergangenheit, sondern bleibt permanent Gegenwart.

Die Betroffenen schlafen nicht mehr und werden immer ängstlicher. Sie können nicht mehr denken, werden aggressiv und fangen an, andere Leute zu schlagen, oder sich komplett zurückzuziehen. Sie können sich nicht mehr um die Menschen kümmern, die sie eigentlich lieb haben.

Es ist nach wie vor illegal, Menschen mit PTBS abzuschieben, wenn durch die Abschiebung eine Selbstgefährdung möglich wäre.

Natürlich ist das illegal. Also sorgen die entsprechenden Behörden dafür, dass die Menschen entweder offiziell kein PTBS haben, oder man schließt die Selbstgefährdung offiziell aus. Dann kann man abschieben.

Zudem verbietet das Asylbewerberleistungsgesetz die Behandlung psychischer Krankheiten: Solange jemand nicht anerkannt ist, gibt es eine gesundheitliche Versorgung nur bei akuten Schmerzen: bei offenen Wunden, einer Schwangerschaft, Gallensteinen, solche Sachen. Psychische Erkrankungen gelten nicht als akut. Die Leugnung der Erkrankung und ihrer Schwere macht es möglich, Menschen abzuschieben, ohne gegen ein Gesetz zu verstoßen.

Foto: Anett Selle

Hans Wolfgang Gierlichs

74, Psycho­analytiker und Mitglied der Härtefallkommission von Nordrhein-Westfalen.

Vor dem Gutachten kommt die Anhörung. Welche Rolle spielt die?

Diese Anhörung – wenige Tage nach der Einreise der Geflüchteten in Deutschland, die zudem mit fremden Dolmetschern stattfindet – ist nicht geeignet, Traumatisierten ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Sie nehmen das eher als Verhör wahr. Gerade jene, die in ihren Herkunftsländern verhört und dabei gefoltert wurden. Sie schaffen es bei einer Anhörung nicht, über Dinge zu reden, über die sie noch nie mit irgend jemandem geredet haben. Und wenn sie es später erzählen, beispielsweise dem Gutachter, ist das zu ihrem eigenen Nachteil. Denn im Gesetz steht, dass gesteigertes Vorbringen im Nachhinein als unplausibel gilt. Es sei denn, das Gegenteil ist bewiesen. Wie sollen die Behörden unterscheiden, ob jemand im Nachhinein etwas erfindet oder es vorher nicht erzählen konnte? Das können nur Fachleute herausfinden. Aber die Behörden wollen von ihnen keine Hilfe.

Wie kommen Sie darauf?

Mitte der 90er Jahre, als man Traumafolgeerkrankungen gerade erst entdeckt hatte, wurde PTBS auch in Anhörungen thematisiert. Es war ein völliger Umschwung. Aber die zunehmende Angabe von PTBS als Krankheit hat die Politik irritiert. Immer mehr Atteste wurden in ihrer Rechtmäßigkeit angezweifelt, es stand der Vorwurf im Raum, das seien Gefälligkeitsatteste. Wir haben Fortbildungsrichtlinien für Ärzte entwickelt und in vielen Bundesländern sind diese Fortbildungen gelaufen. Aber als wir die Kollegen auf dieser Liste nach einiger Zeit gefragt haben, ob sie Aufträge bekommen hätten, war das fast nie der Fall. Ich selbst habe insgesamt etwa acht bis zehn Gutachten für Ausländerbehörden gemacht, etwas mehr für Verwaltungsgerichte. Es wurden jede Menge Gutachten zur Reisefähigkeit erstellt – aber eben nicht von denen, die auf dieser Liste standen. Schließlich mussten wir einsehen, dass die Politik uns nicht haben wollte. Im Gegenteil: Sie hat immer stärker darauf bestanden, dass PTBS eine reine Gefälligkeitsdiagnose sei.

Gibt es denn gar nichts, das Sie optimistisch stimmt?

Das Einzige, was mir Hoffnung macht, ist der neue Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp. Er ist zuständig für unsere Härtefallkommission. Stamp ist kein Linker, sondern ein ganz nüchterner FDP-Mann, aber menschlich. Ich habe das Gefühl, er versteht, dass da irgendwas nicht gut läuft. Er will den Bundesrat davon überzeugen, dass jemand ein einfaches Bleiberecht bekommt, der schon eine bestimmte Zeit hier ist. Dann dürften all diese Leute in Deutschland bleiben, die hier seit so vielen Jahren verzweifeln. Dafür hat er viel Rückendeckung aus anderen Bundesländern. Einer meiner Kollegen hat mir kürzlich in einem Interview gesagt, er sei sicher, dass sich da gar nichts täte. Aber ich setze darauf, dass wir – wir alle zusammen, als Gesellschaft – auch noch eine andere Seite ­haben.