Zur Zeit wird hier der Raum

Mal Science-Fiction, mal Mystery-Krimi: spannende Bewusstseinsdramen beim Open Spaces

Von Astrid Kaminski

Die Welt ist alles, was technisch möglich ist. Plus der biologische Rest. Das ist die Zukunft, wie sie in Julian Webers „Sight Seeing“ aussieht: Aliens, Androiden und Menschen, die sich zusammen durch die Augmented Reality schlagen, ohne zu wissen, ob der Outer Space, in dem sie aufeinandertreffen, real oder fiktional ist. Gefühle sind Affekte, getriggert durch Signale und Impulse aus der Umgebung. Kommen sie von innen, wirken sie wie ein steinzeitliches Rudiment. Unartikuliert, instinktiv, verzerrt, verkeuchter Biomüll. Die zwei infantil greisenhaften Clons dagegen, die sich über herumliegende Sci-Fi-Tools wie Spider-Stelzen und Antennenmaske lustig machen, enacten menschliche Begehren als Objekte in einem Themenpark, als wären sie die griechischen Statuen der Zukunft: Hunger, Durst oder auch Angst, an­xiety, Trennung, seperation.

Worauf sich diese zum „Sight Seeing“ wie Lenz ins Gebirge verirrte Bio-Tech-Gruppe einigen zu können scheint, das sind die J-Pop-Einlagen von Lynn Sue­mitsu alias Golin. Oder spielt sich alles nur im Kopf dieses getrimmten Szenegirls in queerer Post-Manga-Garderobe ab, beziehungsweise im technischen Fortsatz ihres Kopfs? Die meiste Zeit liegt sie schaufensterpuppenhaft gelangweilt inmitten eines Kabelsalats auf einer Picknickdecke. Bis sie dann eben doch mal einen Live-Auftritt hinlegt, statt einfach nur ihren Avatar zappeln zu lasen.

Julian Webers Versuchsanordnung ist nicht narrativ, dennoch sehr präzise gesetzt. Das hat sie mit einer weiteren Premiere im Rahmen der letzten diesjährigen Open Spaces – dem Schaufenster auf die junge Performanceszene der Tanzfabrik in den Weddinger Uferstudios – gemeinsam: Auch Ixchel Mendoza Hernández’ „The Twofold Paradox“ ist eine akribische Versuchsanordnung. Ästhetisch liegen Welten zwischen den Settings: Während Julian Weber eine Art Rampe in den White Cube legt und mit Flugzelten und Reflektoren einen futuristisch-nomadischen Nicht-Ort schafft, hat Mendoza-Hernandez zwei identische Räume konstruiert, die durch indirekte Beleuchtung und andere äußere Einwirkungen eine an Paul Austers „New York Trilogie“ angelehnte filmische Mystery-Atmosphäre schaffen. Zwei Menschen, A und B, tun darin, von einer Wand getrennt, zunächst fast exakt das Gleiche, bis sich Differenzen in ihrem (Erinnerungs-)Skript zu ergeben scheinen. Ist der Rückwärtsstunt von A eine Reaktion auf B? Auf jeden Fall scheint B von A eins mit der Weinflasche übergezogen bekommen zu haben und das Set ein Kriminalfall der Erinnerung sowie des Bewusstseins.

Noch interessanter, als dieses Bewusstseinsdrama zu lösen, sind über die verschiedenen Ästhetiken hinweg die Parallelen der Arbeiten. Zunächst einmal stammen sie beide von ehemaligen Studierenden des Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT). Mit ihrer präzise ausformulierten künstlerischen Position stehen sie – wie auch Kat Válastur, Ian Kaler, Sheena McGrandles oder Sergiu Matis – für die immer augenscheinlicher werdende Qualität der anfangs kritisierten Berliner Per­former*innenschmiede. Präzision der Mittel und des Denkens in interdisziplinären Zusammenhängen bei freigelegten und gepflegten Intuitionskanälen, das in etwa wurde zur Marke HZT.

Weber und Mendoza Hernández haben nach dem Abschluss unterschiedliche Wege eingeschlagen, umso spannender ist es nun zu sehen, wie unterschiedlich Blickwinkel auf Ähnliches ausfallen können: Beide Arbeiten kreisen um Fragen von Kontinuität, Zeit und Bewusstsein, bei beiden ist das Sprechen dissoziiert, die Verbindung zwischen Erleben und Worten gekappt. Während Weber mit Clons, die teletransportiert sein könnten, arbeitet, schafft Mendoza Hernández einen situs inversus, ein Set, in dem die Dinge wie Organe bei siamesischen Zwillingen spiegelverkehrt im Körper beziehungsweise im Raum liegen. Identität war vorgestern. Zeit ist der eigentliche Feind. Wer sich erinnert, liegt falsch, wer altert, fliegt raus. Sogar der digitale Zwilling muss fürchten, dass er nicht für die Ewigkeit gespeichert wird. Zur Zeit wird hier der Raum, so präzise wie haltlos.