Dioxin-Fund in Hamburg: Das Ultragift kommt zurück

Im Naturschutzgebiet Boberger Niederung wurde eine extrem hohe Konzentration von Dioxin nachgewiesen. Das Ausmaß der Verseuchung ist noch unklar.

Ein Verbotsschild hängt an einem Absperrband.

In den gesperrten Fischteichen der Boberger Niederung ist Angeln jetzt verboten Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Hamburg droht der größte Umweltskandal seiner Geschichte. In einem Naturschutzgebiet im Südosten der Hansestadt sind extrem hohe Konzentrationen des krebserregenden Umweltgiftes Dioxin (siehe Kasten) nachgewiesen worden. „Es ist schlimmer als alles, was jemals in Hamburg gefunden wurde“, sagte Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) am Donnerstag. Der Fund erinnert an den bislang größten Dioxinskandal um die Chemiefirma Boehringer Mitte der 1980er-Jahre – nicht zuletzt, weil derselbe Konzern im Verdacht steht, auch für die nunmehr entdeckte Altlast verantwortlich zu sein.

Nachgewiesen wurde jetzt eine Belastung im Boden von 721 Mi­krogramm pro Kilogramm, auf dem Werksgelände des Chemiekonzerns waren seinerzeit gut 400 Mikrogramm gemessen worden. Der Grenzwert für Wohn-, Park- und Freizeitflächen von einem Mikrogramm ist somit um mehr als das 700-fache überschritten. „Wir stehen hier vor einem sehr, sehr schweren Umweltvergehen“, sagte Kerstan.

Die Wasserschutzpolizei, die für Umweltvergehen in der wasserreichen Moor- und Sumpfregion des Naturschutzgebietes Boberger Niederung zuständig ist, habe Anzeige wegen einer schweren Umweltstraftat gegen Unbekannt erstattet, die Staatsanwaltschaft ermittle, berichtete Kerstan. Allerdings gebe es einen Verdächtigen. Denn der chemische „Fingerabdruck“ zeige, dass es sich bei dem Dioxin höchstwahrscheinlich um Rückstände aus der Herstellung eines Pflanzenschutzmittels handele, vermutlich des Insektizids Lindan.

Dieses wurde nach bisherigem Kenntnisstand in Hamburg nur im wenige Kilometer entfernt gelegenen Moorfleeter Werk des Chemieunternehmens Boehringer produziert. „Wie es in die Boberger Niederung gekommen ist, wissen wir nicht“, räumte Kerstan ein.

Dioxin ist der Sammelbegriff für etwa 200 chemisch ähnlich aufgebaute chlorhaltige Dioxine und Furane.

Einige der Stoffe sind extrem giftig. Sie können das Nerven- und Immunsystem schädigen, zu Missbildungen führen und Krebs erregen.

Das toxischste Dioxin ist das 2,3,7,8-Tetrachlor-Dibenzo-p-Dioxin (2,3,7,8-TCDD), das seit der Chemiekatastrophe im italienischen Seveso im Juli 1976 als „Seveso-Gift″ bezeichnet wird. Dabei starben mehr als 3.000 Tiere, mehrere Hundert Menschen erkrankten, das Dorf Seveso musste für mehrere Jahre evakuiert werden.

Dioxine entstehen bei allen Verbrennungsprozessen in Anwesenheit von Chlor und organischem Kohlenstoff unter bestimmten Bedingungen.

Viele Dioxine sind in Deutschland seit 1989 verboten, die fachgerechte Entsorgung, ohne die Umwelt zu belasten, ist jedoch ein großes weltweites Problem.

Deshalb sei auch weder klar, wer der Verursacher sei noch wann das Gift dort abgelagert wurde und wie viel. Dazu müssten die technisch und zeitlich aufwendigen Auswertungen weiterer Proben abgewartet werden. „Erst im Januar wissen wir, wie groß die betroffene Fläche ist“, so Kerstan.

Eine vier Hektar große Fläche südlich einer eingleisigen Bahnstrecke, die nur noch für den Güterverkehr zu einem Industriegebiet genutzt wird, wurde gesperrt; für Spaziergänger und Radfahrer ist das Naherholungsgebiet nur noch auf Umwegen erreichbar. Die konkrete Probe stammte aus dem Schotter am Bahndamm. Deshalb könnte das Dioxin, so eine Theorie, beim Anlegen einer Baustraße Anfang der 1960er-Jahre mit Bauschutt dorthin gekommen sein. Dann wäre die Verseuchung bereits mehr als 50 Jahre alt.

Weil Dioxin für den Menschen besonders gefährlich ist, wenn es mit der Nahrung in den Körper gelangt, werden auch Pilze und Beeren sowie Fische aus zwei im Naturschutzgebiet gelegenen Teichen untersucht. Das Angeln ist dort bis auf Weiteres untersagt. Direkte Anwohner gibt es zwar nicht, der angrenzende Stadtteil Mümmelmannsberg liegt auf einem Hang, getrennt durch den Bahndamm und eine autobahnähnliche Ausfallstraße, oberhalb der Boberger Niederung. Dennoch sollen am kommenden Dienstag die Anwohner bei einer Veranstaltung in der Stadtteilschule über die Lage informiert werden.

Dabei steckt die Umweltbehörde in einem „gewissen Dilemma“, wie Kerstan einräumte, zwischen Alarmismus und Intransparenz. „Wir wollen mit der Information der BürgerInnen und der Öffentlichkeit nicht bis Januar warten, obwohl wir auf manche Fragen noch keine definitiven Antworten haben.“ Erst wenn das gesamte Ausmaß der Verseuchung bekannt sei, könnten die Gefahren für Mensch und Natur benannt werden.

Entfernen, verbrennen oder einkapseln

Und auch erst dann könne ein Sanierungskonzept erarbeitet werden. Entfernen, verbrennen oder einkapseln seien die grundsätzlichen Optionen. Welche infrage komme und zu welchen Kosten, darüber wollte Kerstan „nicht spekulieren“. Auch nicht über die Frage, ob ein möglicher Verursacher nach so langer Zeit noch zur Rechenschaft gezogen werden könne. Das sei Sache von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten. Boehringer sei über die Funde informiert und zu einem Gespräch gebeten worden: „Weiter sind wir noch nicht“, sagte Kerstan.

Erstes Lob erhält er dennoch vom Hamburger Umweltverband BUND. „Wir haben derzeit den Eindruck, dass die Umweltbehörde die Sache ernst nimmt“, kommentierte Landesgeschäftsführer Manfred Braasch. Sollte jedoch die hohe Belastung nicht punktuell sein, sondern sich auf die gesamte Boberger Niederung ausgebreitet haben, „käme ein gewaltiges Entsorgungsproblem auf die Stadt zu“, fürchtet Braasch, mit Entsorgungskosten von 50 bis 100 Millionen Euro. Deshalb müsse unbedingt „der Verursacher dingfest gemacht werden“.

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