Wie die Europäer zu Milchtrinkern wurden

Milch ist in Europa erst über Umwege zu einem der Hauptnahrungsmittel geworden. Heute hinterfragen einige das, weil sie um ihre Gesundheit fürchten. Und ein paar sorgen sich auch um das Wohl der Milchkühe. Noch ist das eine Minderheit

Illustration: Imke Staats
Text: Friederike Gräff

Die Milch macht’s“ oder auch „So wichtig wie das tägliche Glas Milch“: Die Werbelyrik gibt sich sicher, dass Milch zu den Grundpfeilern unserer Ernährung gehört. Und ist damit erfolgreich: Der Konsum von Milch- und Milchprodukten in Deutschland ist hoch – wenn auch leicht rückläufig. Im Durchschnitt lag der Konsum von Konsummilch 2017 bei 51,1 Kilogramm pro Kopf, der von Käse bei 24,1 Kilogramm und der von Butter bei 5,9 Kilogramm.

Doch die Milch ist kein so selbstverständlicher und unveränderlicher Teil unserer Nahrung, wie es heute scheint. Die Viehwirtschaft in Europa begann um 8.000 vor Christus – Forschungen haben aber ergeben, dass die Europäer bis etwa 5.000 vor Christus keine Laktose, also keinen Milchzucker, vertrugen. Nur Säuglinge konnten problemlos Milch konsumieren. Ab etwa fünf Jahren kann nur derjenige Milch problemlos verdauen, der das Enzym Laktase produziert. Der Anthropologe Joachim Burger von der Universität Mainz hat nachgezeichnet, wie sich die Laktasepersistenz, also die Fähigkeit, Milch zu verdauen, allmählich in der europäischen Bevölkerung verbreitet hat.

Dabei griffen kulturelle und genetische Entwicklung eng ineinander. Einerseits produzierten die Milchviehhalter Milch und entwickelten Fermentierungstechniken, bei denen der Laktosegehalt gesenkt wurde, wie etwa in Joghurt und Käse. Zugleich überlebten tendenziell eher diejenigen, die diese nahrhaften Produkte zu sich nehmen konnten. So erhöhte sich der Anteil der Menschen mit Laktasepersistenz in Europa schließlich auf zwei Drittel der Bevölkerung. In Afrika und Asien liegt die Rate dagegen nur bei rund zehn Prozent.

Noch ist unklar, warum man in Europa plötzlich begonnen hat, Milchprodukte zu erzeugen. In der Mongolei, wo heute rund ein Viertel der Menschen Laktose verdauen können, gibt es seit 3.000 Jahren eine Tradition von Milchprodukten. Dort aber, so erklärt es Christina Warinner vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, sei man aufgrund der klimatischen Schwierigkeiten für den Ackerbau immer auf Viehzucht angewiesen gewesen. In Europa waren die Bedingungen für Ackerbau viel günstiger, und trotzdem begann man, Milchprodukte zu erzeugen.

Bemerkenswert ist, dass man sich in Deutschland seit ein paar Jahren auf die Laktoseintoleranz besinnt. Sieht man sich in Supermärkten und Cafés um, so kann man den Eindruck gewinnen, dass der Anteil der Menschen mit Laktoseunverträglichkeit in kurzer Zeit deutlich gestiegen sein muss – dabei haben sich weder die genetische Ausstattung noch die Ernährungsgewohnheiten drastisch verändert. Christina Warinner glaubt, dass die Gründe komplex sind. Einerseits hängt der Laktosegehalt der Milchprodukte vom Fettgehalt ab – je fettärmer, desto höher der Laktosegehalt. Andererseits sei auch das Bewusstsein für das Phänomen gestiegen. Der Anthropologe Joachim Burger empfindet die Diskussion um die Laktoseunverträglichkeit dagegen als „von Konzernen befeuert, die wieder mal ein neues Produkt bewerben wollen“ – und darüber hinaus auch ein „klein wenig als neurotisch“.

Was die KundInnen derzeit mehr bewegt – ihr Wohl oder das der Milchkühe – ist schwierig zu sagen. Der Anteil der Biomilch am Milchkonsum der Deutschen steigt. Laut der Sprecherin des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft e. V., Joyce Moewius, gibt es insgesamt aber noch einen „sehr ausbaufähigen Anteil am Gesamtkonsum und an der Gesamtproduktion“. Laut Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung stammten 2015 nur knapp 2,3 Prozent der in Deutschland angelieferten Milch aus ökologischer Erzeugung. Insgesamt wurde 2015 mit 732 Millionen Litern drei Prozent mehr Biomilch angeliefert als im Vorjahr. Obwohl sowohl der Bedarf als auch die Produktion seit Jahren steigen, liegt der Selbstversorgungsgrad bei nur 70 Prozent, das heißt, Biomilch wird zusätzlich aus dem Ausland importiert.

Laut Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft haben in den letzten zwei Jahren aber wieder mehr Bauern auf Bioproduktion umgestellt, besonders auch Milchviehbetriebe. Deren Milchproduktion ist eine natürliche Grenze gesetzt: Sie dürfen nur so viel Milchkühe halten, wie ihre Flächen vertragen. Das heißt zum Beispiel, dass sie auf ihren Äckern genügend Futter für ihre Tiere anbauen können müssen.

Noch, so hat man das Gefühl, ist die Debatte über artgerechte Haltung kaum bei den Milchkühen angekommen. Die Bilder von Schweinen oder Geflügel in Massentierhaltung haben inzwischen viele VerbraucherInnen mehr oder minder freiwillig zur Kenntnis gekommen. Aber relativ wenige wissen vom kurzen Leben der Hochleistungsmilchkühe und ihrem vorzeitigen Tod.

Wer weiß schon, dass selbst in Biohaltung die meisten Kälber höchstens drei Tage bei ihren Müttern verbringen? Joyce Moewius vom Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft glaubt, dass die Debatte über unseren Fleischkonsum im Positiven eine Stellvertreterdiskussion ist. Sie mache klar, dass politischen Regeln so gefasst werden müssen, dass die natürlichen Ressourcen nicht übernutzt werden. Aber sie zeige auch, dass wir unsere Verantwortung nicht an der Kasse abgeben dürfen.