Aura und Notwendigkeit

Nicht einmal die Infrastruktur ist unschuldig. Zwei Bücher beschäftigen sich mit ihr als Herrschaftsinstrument und mit ihren soziokulturellen Implikationen

Dirk van Laak: „Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft“. S. Fischer, Frankfurt/M. 2018, 368 Seiten, 26 Euro

Von Frederic Jage-Bowler

Rund 160 Milliarden Euro. So hoch beziffert das Deutsche Institut für Urbanistik den Investitionsrückstand bei Ausgaben in die Infrastruktur der Bundesrepublik. Jüngst wurde wieder mehr Engagement von Bund und Kommunen gefordert. Dabei haben allein Letztere für dieses Jahr schon eine Erhöhung ihrer Ausgaben um 3 Milliarden Euro beschlossen. Reicht nicht, monieren die Expertinnen und Experten. Schließlich fehlt beispielsweise 61 Prozent der Kommunen Geld für Instandhaltung und Neubau ihrer Ver­kehrs­infrastruktur, 16 Prozent vermeldeten gar einen „gravierenden Rückstand“.

Aber brauchen wir wirklich ein besseres Verkehrsnetz? Quer durch die politischen Lager scheint man sich hier ausnahmsweise einig zu sein: Trotz des Sparzwangs aufgrund der Schuldenbremse sehen die Akteure einhellig den Staat in der Pflicht. Dabei ist die Integration von Dienstleistungen und Verkehrswegen in Deutschland auf historisch einzigartigem Niveau, von der negativen demografischen Entwicklung gar nicht zu sprechen. Infrastrukturprojekte rauben Geld und Nerven. Warum also soll immer weiter gebaut werden?

Ein wichtiger Grund, so der Historiker Dirk van Laak, ist, dass Infrastruktur nach wie vor als ideologiefernes Politikfeld gilt. Er schreibt, ihr genereller Expansionszwang und ihre meist in eine utopische Zukunft weisende Form verliehen ihr eine „Aura der Notwendigkeit“. „Alles im Fluss“ ist ein Beitrag zur Geschichte von In­fra­struk­tur.

Darin unternimmt der Leipziger Historiker nicht bloß eine umfassende Betrachtung eines oft unterschätzten Gegenstands. Denn die beispiellose Entwicklung, vom Eisenbahnnetz des 19. bis zur Glasfaserverkabelung des 21. Jahrhunderts, hat natürlich soziokulturelle Implikationen. Geht es nach van Laak, sind diese in ihrem Ausmaß mindestens genauso gewaltig.

Man nimmt Infrastruktur erst wahr, wenn etwas ins Stocken gerät

Infrastrukturen sind für den Autor Vorleistungen, die erbracht werden müssen, damit Industriegesellschaften funk­tio­nie­ren. Schon ihre begriffliche Bestimmung als „Unter-Struktur“ deute ihre weitgehende Unsichtbarkeit an. Es überrascht daher also nicht, dass sie in den Geschichts- und Sozialwissenschaften lange kaum Beachtung fand. Der Blick auf sie tut aber not, denn in ihnen spiegeln sich 200 Jahre Funktionalismus und Beschleunigungstendenz.

Besonders interessieren van Laak Vorgänge der Gewöhnung und der habituellen Abrichtung, die die Anbindung an Infrastrukturen dem Einzelnen abverlangen. Telefon, Kanalisation und Straßenverkehr würden gleichsam zur zweiten Natur. Man nimmt Infrastruktur erst wahr, wenn etwas ins Stocken gerät. Ihr möglichst reibungsloser Vollzug wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts alleiniger Aufgabenbereich einer wachsenden „Funk­tions­elite“. Eine der politischen Pointen der vorliegenden Studie ist sicherlich, dass sich solche Ingenieure in der Vergangenheit besonders anfällig für autoritäre Regime gezeigt haben.

In seiner Studie „Infrastruktur. Ein Schlüsselkonzept der Moderne“ zitiert Steffen Richter einen Oberleutnant in Gustav Frenssens Kolonialroman „Peter Moors Fahrt nach Südwest“: „Diese Schwarzen haben den Tod verdient, nicht weil sie gegen uns aufgestanden sind, sondern weil sie keine Häuser gebaut und keine Brunnen gegraben haben.“

Steffen Richter: „Infrastruktur. Ein Schlüsselkonzept der Moderne und die deutsche Literatur 1848–1914“. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 452 Seiten, 40 Euro

Er spielt auf den 1904 von der deutschen Kolonialmacht verübten Genozid an den Herero auf dem Gebiet des heutigen Namibia an. Infrastruktur als Rechtfertigung für Massenmord?

Auf der Suche nach den Ursprüngen der infrastrukturellen Herrschaft legt Richter in seinen Lektüren von deutscher Prosa der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts ein komplexes Wissen über globale Vernetzungen frei, das man in Gustav Frenssens Weltbezwinger-, in Fontanes Heimat- oder in Wilhelm Raabes Heimkehrererzählungen so gar nicht erwartet hätte.

Anders als van Laak sieht Richter Infrastruktur nicht primär als Fließraum, sondern als eine Art Medium. Dies wiederum ermöglicht es ihm, seinen Gegenstand mit allerlei voraussetzungsstarker Kulturtheorie in Verbindung zu bringen. In seiner definitiv anspruchsvolleren Abhandlung gelingt ihm ein überzeugendes Panorama einer zutiefst widersprüchlichen Thematik. Unweigerlich steht irgendwann die Frage im Raum: Was ist heute eigentlich nicht Infrastruktur?