das ding, das kommt
: Peinliches Lebensphasen-Log

Das Teenie-Tagebuch hat seine große Zeit hinter sich. Gerade deshalb boomen Lesungen der peinlichen Stilblüten Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Es gibt (oder zumindest: gab mal) viele gute Gründe, sie mit kleinen Schlössern vor neugierigen Augen zu schützen, unter Matratzen zu verstecken und schließlich im Keller zu „vergessen“: Jede Menge im Rückblick peinlich tastende Versuche finden sich in jedem Tagebuch-Projekt, mit juvenil-krakeligen Strichen schon im Teenager-Alter die „Linie des eigenen Lebens“ zu finden (so der Parapsychologie-Erfinder Max Dessoir, dessen erstes Werk von 1896 den auch hier passenden Titel „Das Doppel-Ich“ trägt).

„Cringe Night“ („Schäm-Nacht“) hieß folgerichtig der weltweit erste „Diary Slam“ in Brooklyn, auf dem der Tabubruch, die pubertären Stilblüten ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren, zelebriert wurde. 2005 war das, nicht zufällig in jenem Jahr, in dem sich pro Tag 230.000 neue Mitglieder beim sozialen Netzwerk „MySpace“ (heute Platz 4.392 der meistgesuchten Webseiten) anmeldeten, um all die unausgegorenen Gedanken schon im Moment der Niederschrift zu veröffentlichen.

Ebenfalls 2005 taucht der Begriff „Life Caching“ erstmals auf, der das Speichern und dann eben Veröffentlichen all jener personenbezogenen Daten meint, die „Life Logger“ heute mit Armbändchen und Apps so ansammeln. Wobei: Der erste (und bis heute extremste) Lifelogger begann schon 1972, einfach alles aufzuzeichnen: 25 Jahre lang – bis ihn ein Herzinfarkt außer Gefecht setzte – schrieb der US-Priester Robert Shields alle fünf Minuten ein paar Sätze. Das längste Tagebuch aller Zeiten hat er so zusammengekritzelt: 37,5-Millionen Wörter sind in 94 Kisten versammelt.

Aber auch Shields gehörte noch zur alten Schule, erst 50 Jahre nach seinem Tod darf man darin lesen, hat er verfügt. Eine historische Textgattung jedenfalls, dieses öffentlich gerade seiner Unerträglichkeit wegen (ver-)lesenswerte (Teenie-)Tagebuch: Die Zahl angemessen peinlicher Privataufzeichnungen, die den für die öffentliche Katharsis qua Kollektiv-Komik ausreichenden Doppel-Ich-Abstand von rund zehn Jahren aufweisen, nimmt seit Jahren beständig ab.

Und auch die Tagebuchlesungsreihe des Hamburger Vereins Clubkinder kommt offenbar an ein vorläufiges Ende. Nach 100 in 25 Veranstaltungen gelesenen Tagebüchern wird erst mal Bilanz gezogen: Vier „der besten“ Tagebuchleser*innen sind zum 1. Musikspezial der Reihe eingeladen. Einziger Unterschied: Diesmal wird das Lebensphasen-Log live vertont.Robert Matthies

1. Clubkinder-Tagebuchlesung-Musikspecial: Sa, 8. 12., 20.15 Uhr, Hamburg, Gruenspan