Annabelle Hirsch Air de Paris
: Die Marseillaise singen und dabei den Triumphbogen anpinkeln – verrückt

Gestern Abend gegen 20 Uhr wird Emmanuel Macron, der französische Präsident, der seit knapp zehn Tagen hartnäckig schweigt, zu den Franzosen gesprochen haben. Er wird, so heißt es, seit zwei Tagen in den Medien „wichtige Ankündigungen“ gemacht haben. Wird, so hoffen es viele, Worte gefunden haben, um die Wut und den Frust und den Hass, der Frankreich seit mittlerweile einem Monat in einer Art Ausnahmezustand hält, endlich zu beruhigen. Leider kann diese Kolumne die Allokution aus druckterminlichen Gründen nicht einbeziehen. Und leider ist es, so sehr man sich das Gegenteil wünschen mag, auch sehr unwahrscheinlich, dass dieser Montagabend alles befrieden wird.

Denn dafür ist die Situation einfach schon viel zu weit aus dem Ruder gelaufen. Seit den Ausschreitungen des vorvergangenen Samstags ist es eigentlich kaum noch möglich, über irgendetwas anderes als die Gelbwesten zu sprechen. Im Radio und im Fernsehen werden Sendungen abgesagt, um „Gilets jaunes“-Specials zu bringen, von den Zeitschriften-Covern blicken einen nur noch die Bilder von Krawall und Zerstörung entgegen. Dabei ist klar, dass es, ganz gleich was Macron nun gestern gesagt oder versprochen hat, ein „vor“ und ein „nach“ den Samstagen des 1. und 8. Dezembers gibt. Dass hier etwas kaputt gegangen ist oder vielmehr, dass sich hier eine schon vorhandene Kaputtheit manifestiert hat, die man so schnell nicht wieder wird richten können.

Man muss sich das vielleicht noch mal kurz vor Augen führen, weil es, selbst wenn man hier lebt, vollkommen surreal erscheint: Am 1. Dezember liefen Horden von Männern (Gilets jaunes oder Profi-Zerstörer, so genau weiß man das leider nicht) durch die Straßen von Paris, schlugen Schaufenster ein, fackelten Autos ab, plünderten Geschäfte, besprühten den Triumphbogen und schlugen im Museum des Bogens alles kurz und klein. „Ja und? Ist doch nur ein Denkmal, was ist das schon gegen den Schmerz der Leute“, sagen da manche, wie der immer gedankenloser und selbstverliebter werdende Schriftsteller Edouard Louis, der offenbar unter Visionen leidend, in Paris Körper sieht, „die von der Müdigkeit und der Arbeit, vom Hunger, von der andauernden Demütigung der Herrschenden verwüstet sind“. Keine Ahnung, wo er unterwegs war, ich habe diese Körper nicht gesehen. Aber egal. Permanent die Marseillaise singen und gleichzeitig den Triumphbogen anpinkeln, das macht eigentlich keinen Sinn. Einen Teil des Volkes (auch die Pariser sind das Volk!) dazu zu zwingen, sich am Samstag vollkommen zu verbarrikadieren, seine Geschäfte, auch kleine Geschäfte deren Umsatz ein anderer ist als der von Chanel und Co, am Vorweihnachtswochenende zu schließen, teilweise sogar vollkommen auszuräumen und enorme Verlust einzustecken, macht leider auch keinen.

Zwar war der Samstag weniger brutal als man es befürchtete, die Toten, die uns der Élysée-Palast, vom Irrsinn auch schon vollkommen befallen, ankündigte, blieben aus, allerdings wurden auch über tausend (!) Menschen festgenommen. Und Bilder der Gewalt sah man trotzdem überall: Junge Männer, die Schaufenster einschlagen und Läden ausrauben, die Mülltonnen und Autos anzünden, die die Holzverkleidungen an den Geschäften wegreißen und sich insgesamt weniger benehmen wie Leute, denen es schlecht geht und die für ein besseres Leben demonstrieren, als vielmehr wie solche, die sich von jeglicher Form zivilisierten Verhaltens verabschiedet haben.

Dass man mich bitte nicht falsch versteht: Ich empfinde Frankreich ebenfalls als ein teilweise empörend ungerechtes Land, nur wird dieses Chaos daran ja nichts ändern. Unter den wirtschaftlich enormen Verlusten der letzten Wochen und den Vertrauensbrüchen innerhalb der Gesellschaft werden am Ende jene leiden, die sich eine Verbesserung wünschten. Es profitiert nicht das Volk, sondern nur der extreme Rand, von wo aus permanent Öl ins Feuer gegossen wird. Außer Emmanuel Macron präsentierte gestern eine Wunderlösung. Glauben kann ich es nicht, hoffen will ich es sehr.

Annabelle Hirsch ist freie Autorin in Paris