Enttäuschte Angstlust

Mit „Frankenstein/Homo Deus“ und „Das Prinzip Nosferatu“ locken das Hamburger Thalia Theater und Theater Lübeck Gruselfans. Gänsehaut machen beide Inszenierungen nicht

Grusel bleibt in Hamburg nur Konfetti fürs Theater-Tingeltangel: Jan Bosses Monsterreigen wirkt unausgegoren Foto: Krafft Angerer

Von Jens Fischer

Angst ist ein Lebenselixier, fühlen sich Menschen doch gerade dann vital, wenn Adrenalin und chemisch Verwandte den Körper in einen Hab-Acht-Wachrausch versetzen. Wer sein Dasein gegen Gefahren abdichtet, sucht die kleinen Kicks in sicherem Abstand – als Horror-Grusel-Krimi-Konsument. Solche Angstlust feiern jetzt das Thea­ter Lübeck und das Hamburger Thalia.

An der Binnenalster puzzelt der faustisch strebende Dr. Frankenstein aus Schlachtabfällen und Leichenteilen eine Kreatur zusammen, die sich gegen seinen Gott spielenden Schöpfer stellt und die Dystopie-Panik auslöst, die Wissenschaft erschaffe Terminatoren des Homo sapiens – derzeit durchzieht dieses Grausen ja die Debatte um Künstliche Intelligenz (KI).

Und genau diesen Aspekt kitzelt Regisseur Jan Bosse auch mit reichlich Zitaten aus Yuval Noah Hararis populärwissenschaftlicher „Homo Deus“-Analyse aus Mary Shelleys 100 Jahre alter Romanvorlage. Die Erweckung des Homunculus startet er Genre-nebulös als Reenactment eines Gothic-Films, wie Bosse es nennt, und führt Frankensteins Monster schließlich als Cyborg in die schöne neue Welt des Posthumanismus.

An der Trave löst ein weiterer Klassiker des Schauderns den szenischen Schrecken aus. Kahler Schädel, abstehende Fledermausohren, Hakennase, Krallenhände – Nosferatu ist zurück. Was gerade in Lübeck Sinn ergibt. Wurden dort doch entscheidende Einstellungen der „Symphonie des Grauens“ (1922) gedreht, F. W. Murnaus Adaption des Bram-Stoker-Romans „Dracula“. Noch heute stehen gleich hinterm Holstentor die Salzspeicher, die Filmheld Graf Orlok als Domizil wählte. Das des Gegenspielers Thomas Hutter ist auch noch da, am Aegidienkirchhof.

In abendlichen Stadtrundgängen bietet das Theater an, diese Drehorte zu erkunden und Filmhandlung erzählt zu bekommen. Denn in Marie BuesUraufführung von „Die Tonight, Live Forever oder Das Prinzip Nosferatu“ ist davon nichts zu erfahren, sondern eine lückenlose Überschreibung des Films zu erleben. Wie in Hamburg wird erneut aus Israel stammende Wortesetzerkunst genutzt, die Beziehung zur Gegenwart herzustellen. In diesem Fall sucht Sivan Ben Yishai nach aktuellen Saugernaturen.

Blutleere Oberflächen

Nosferatu war ja schon immer mehr als nur Unhold eines Schauermärchens, das Eros und Verderben vereint. In der Teenie-Variante penetrierten kürzlich Posterboy-Vampire junge Mädchen bis aufs Blut. Auch ist der unheimliche Wiedergänger als Salon-Dandy bekannt, das Schicksal des Ennuis erträgt er stilvoll als Widerpart zur grassierenden Fortschrittsbegeisterung, deren panisch fantasierte Kehrseite ja auch in „Frankenstein“ Ereignis wird.

Die Schattenwesen sind vor Missbrauch nicht geschützt. Nazis interpretierten Nosferatu als ewigen, Verderben bringenden Juden, andere sahen eher das Drama eines traumatisierten Weltkrieg-Heimkehrers oder eine Warnung vorm heraufziehenden Faschismus. Seit den 1960ern wird Nomadentum und Gier des Zwischenwesens gern einem Ausbeuter kapitalistischer Schule zugeordnet.

An welche Interpretation dockt die Lübecker Produktion an? An keine. Die Autorin assoziiert locker Bezüge. Da ein Makler in der Filmvorlage in die Karpaten reist, erzählt ein Vertreter des Berufsstandes von der Versetzung in die französische Provinz. Die Kunden seiner Luxuswohnungen beschreibt er als Untote, weil sie nur snobistisch dahinvegetieren.

Da Murnaus Film auch als Ausdruck sublimierter Homosexualität gedeutet wurde, will der Makler diese nun exzessiv ausleben. Per Dating-App findet er Zugang zu einem Blind Date in den von Skeletten bevölkerten Katakomben von Paris. „Ich und er, 20 Meter unter dem Grund, ohne Kondom fickend, nur für diesen Fick, nur für diesen einen Fick, im Knochenstaub rollend, schniefend und injizierend, und es ist nicht genug, es ist nicht genug, in den Nacken des anderen beißend, und nicht kommen können, des anderen Blut leckend, und nicht kommen können, weil wir high sind …“ usw. Erlösung? Natürlich Fehlanzeige.

Zweites Beispiel, anderer Jargon, aber dieselbe Diagnose: akuter Sprachdurchfall. Stocksteif steht in der Bühnenmitte eine Frau im rosa Misswahl-Kleid und fabuliert ungebremst von ihrem beruflichen und körperlichen Selbstoptimierungswahn. Stets angefeuert von der Mama. Da immer dort, wo Nosferatu auftauchte, die Pest folgte, ergreift nun Panik vor Viren, Krebs, Aids die Redefluten, andererseits wird so auch die Sehnsucht befeuert, in den Tod erlöst werden zu können.

Diagnose: Sprachdurchfall

Umschwirrt wird die krude Abfolge der Schnellsprech-Soli von Tänzern. Die erinnern im exaltierten Motionskanon an blutdurstige Abgründe hinter den blutleeren Oberflächen. Das alles sieht dank der bildstarken Gestaltung prima aus, hat Tempo – aber einfach keinen Groove: Niemand fängt das anspielungsreich mäandernde Libretto dramaturgisch ein oder fügt die Figuren zu einem Stück zusammen; nirgendwo wird deutlich, was das Prinzip Nosferatu anno 2018 bedeutet.

Ähnlich unausgegoren wirkt das „Frankenstein“-Material. Aber immerhin ist hier das Prinzip klar. Zum Leben erweckt wurde die monströse Kunstfigur durch Stromstöße. Elektrizität galt Ende des 18. Jahrhunderts als Zaubermittel, das Lebewesen und tote Materie elementar unterscheidet. Sie ist auch das Lebenselixier der KI, gegen die der Frankensteinsche Monstermythos an fünf Spielstationen bei der Wanderung durchs Thalia in Stellung gebracht wird. Etwa in der Plauderei einer Putzfrau (Karin Neuhäuser). Im Rangfoyer warnt sie: „Die Menschen fragten den Computer, gibt es einen Gott? Und der Computer sagte: Ja, ab jetzt – und rannte mit dem Stecker davon.“ In einem endzeitlich düsteren Film kämpfen anschließend die letzten beseelten Wesen gegen Replikanten ums Überleben.

Forscher-Comedians versuchen unter den Theatergänger-Bots diejenigen Besucher im Parkett zu orten, die noch von biochemischen Algorithmen bewegt werden. Gerade ihnen gilt die finale Verheißung: „Ihr könnt Mangel, Geschlecht, Alter, Herkunft, Rasse, Tod, ja, sogar Raum und Zeit hinter euch lassen. Lasst den Tod vor der wissenschaftlichen und technologischen Revolution erzittern. Ihr könnt Unsterblichkeit erlangen und ihr habt nichts zu verlieren – außer eurer Biologie.“ Das macht nun wirklich Angst. Aber derart spaßwillig verkostet Bosse all den KI-Grusel, dass die Gänsehautgedanken kaum mehr als Konfetti eines Tingeltangel-Abends sind.

„Die Tonight, Live Forever oder Das Prinzip Nosferatu“: Sa, 22. 12., 20 Uhr, Theater Lübeck, Kammerspiele

„Frankenstein/Homo Deus“: Fr, 11. 1. 2019, 20 Uhr, Hamburg, Thalia Theater