Berührungsangst und Sehnsucht

Elisabeth von Thadden thematisiert in „Die berührungslose Gesellschaft“ das Leben des heutigen Menschen zwischen dem Wunsch nach Freiheit und der Angst vor Einsamkeit. Wobei sie weiß, ein Schaumbad kann da manchmal guttun

Von Katharina Granzin

Mit einem üppigen Schaumbad beginnt Elisabeth von Thadden ihr Buch. Der Seifenschaum einer Duschgelwerbung auf einem großen Plakat im Bahnhof erregt ihre Aufmerksamkeit, und seine inhaltlichen Implikationen erscheinen ihr als symptomatisch für die widersprüchlichen körperlichen Bedürfnisse des Menschen: Eine Sehnsucht nach Berührung ist da, die häufig nicht erfüllt wird, gleichzeitig gibt es auf der anderen Seite große Scheu vor Berührung, die in Verletzung und Schmerz ausartet. Dieser Widerspruch steht im Zentrum des Buches. Anders als sein Titel suggeriert, formuliert seine Autorin keineswegs vorrangig die Kritik an einem gesellschaftlichen Defizit. Eigentlich ist das Gegenteil der Fall: Auch wenn – oder vielleicht weil – Elisabeth von Thadden es vermeidet, diesbezüglich zu einem klaren Fazit zu kommen, ist es leicht, ihr Buch als eine Liebeserklärung an unsere heutige Gesellschaft zu lesen, in welcher der verletzliche Menschenkörper endlich bewusst geschützt wird vor vielen Zumutungen, die er in den vorangegangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden zu erleiden hatte. Der Preis dafür ist allerdings, so liest von Thadden die Plakatwerbung, dass der Wunsch nach risikoloser Berührung oft nur noch mithilfe eines den Körper sanft umhüllenden Schaumbads zu erfüllen ist.

Elisabeth von Thadden ist Redakteurin der Zeit. Das ist insofern relevant, als ein gewisser Teil der Buchinhalte aus ihrer feuilletonistischen Produktion stammt. Entsprechend flexibel ist der Aufbau des Buches insgesamt, das eher eine Textsammlung darstellt, als dass es einer durchgängigen Argumentation folgen würde. Entspannt ist auch der Gestus; feuilletonistische Lesbarkeit geht vor tiefschürfender Analyse. Eine vertiefende Lektüre anzuschließen, wird aber leicht gemacht mithilfe der ausführlichen Bibliografie am Ende.

Unter anderem hat von Thadden sich aufgemacht, Gespräche zu führen mit Leuten, die von Berufs wegen etwas von Berührung verstehen. Ein Tastsinnforscher wird befragt, eine Masseurin darf erzählen. Angefangen beim Pflegebericht der Bundesregierung bis hin zu zahlreichen kulturwissenschaftlichen Monografien wird aber vor allem eine ganze Menge Literatur verarbeitet. Als sehr großes Thema taucht die Pflege im Alter immer wieder auf. Dass dieses Themenfeld an Bedeutung noch zunehmen wird, da die westlichen Single-Gesellschaften gerade auf bestem Wege sind, in die Pflege hinein zu altern, macht die Autorin sehr deutlich. Gleichzeitig ist implizit immer klar, dass sie diese Entwicklung nicht in erster Linie als Problem sieht. Sie ist die natürliche Folge eines Lebenswandels, den der heutige Mensch sich leistet: nämlich den Verzicht auf allzu große oder gar unerwünschte, körperliche Nähe. Anders als früher, als Familien – bzw. Ehen – für ihre mit weniger gesellschaftlichen Rechten ausgestatteten Mitglieder oft zu Zwangsgemeinschaften wurden, innerhalb derer körperliche Gewalt schlicht ertragen werden musste, hat das Individuum heute zumindest rechtliche Möglichkeiten, sich aus solchen Verhältnissen zu befreien. (Wenngleich es in vielen Ländern der Erde natürlich noch längst nicht so weit ist. Auch in Frankreich zum Beispiel wurde die körperliche Züchtigung von Kindern erst letzten Monat gesetzlich verboten.) Die Möglichkeit, allein zu leben, ist – vor allem für Frauen – ein großer Fortschritt. Die historische Perspektive, die von Thadden in ihrem Buch anreißt, ruft in Erinnerung, wie gut wir es heute (hierzulande) haben. Das Recht auf Nicht-Berührung aber hat eine Kehrseite; denn das Bedürfnis nach Berührung besteht ja weiterhin. Ungewollte Alters­einsamkeit kann die Folge sein. Als Metapher dafür sieht von Thadden Robert Redfords Ein-Mann-ein-Boot-Film „All is Lost“. Sie schreibt darüber: „Es zeigt sich ein Kippbild, wie so oft, wenn man sich ansieht, wie wir den epochalen Wandel am lebendigen Leibe austragen.“ Falls es eine Art Fazit in diesem Buch gibt, dann kommt dieser Satz dem zumindest sehr nahe. Und dass wir diesen epochalen Wandel mit unseren Körpern letztlich alle selbst mitbestimmen, ist doch eine erhebende Vorstellung, die auch die düstere Aussicht auf drohende Alterseinsamkeit immerhin ein klein wenig relativiert.

Elisabeth von Thadden: „Die berührungslose Gesellschaft“. C.H. Beck, 205 S., 16,95 Euro