Es war früher schon komplizierter

Behinderungen haben mehr mit der Gesellschaft zu tun als mit Körpern. Dass das schon immer schon war, haben Bremer Historiker*innen auf über 500 Seiten gezeigt

Aus Benimmbüchern lässt sich lernen, dass Behindertenwitze zunehmend als unanständig galten

Von Jan-Paul Koopmann

Behindert sagt man heute nicht mehr. Ob dieser Satz nun als scharfe Ermahnung gemeint war oder als Entschuldigung, weil einem das Wort selbst so rausgerutscht ist: Spannend ist in beiden Fällen das „heute“. Das klingt nämlich, als wäre früher alles einfacher gewesen und auch ein bisschen so, als wäre es heute verboten, die Dinge beim Namen zu nennen.

Dem wäre entgegenzuhalten, dass Behinderung eine soziale Konstruktion ist, und dass unser Reden die Sache nicht beschreibt, sondern sie erst erfindet. Wer in den letzten Jahrzehnten irgendeine Geisteswissenschaft studiert hat, wird davon gehört haben. Leicht zu verstehen ist diese Sprachmagie aber bis heute nicht. Und es ist immer noch verblüffend zu sehen, dass das schon immer so war.

Etwas flapsig daher gesagt ist es das, woran eine Gruppe Historiker*innen an der Uni Bremen arbeitet. Nach diversen Forschungsetappen, Kooperationen mit Behinderten-Vertreter*innen, Ausstellungen und internationalen Austauschprogrammen ist der vorläufige Höhepunkt dieser Projekte das gut 500 Seiten starke Handbuch „Dis/ability History der Vormoderne“. Darin finden sich neben grundsätzlichen methodischen und programmatischen Essays auch Aufsätze über erbliche Zahnfehlstellungen (die berühmte „Habsburger Unterlippe“), Kriegsinvalidität, Unfruchtbarkeit oder darüber, wie man sich bereits im Mittelalter den Kopf darüber zerbrach, ob und wie sich Menschen mit Behinderung als Arbeiter*innen nützlich machen können.

Dass all diese Dinge wenig miteinander zu tun haben, ist bereits die erste Erkenntnis: Nicht diese Beispiele für Behinderungen sind weit hergeholt, sondern im Gegenteil die soziale Kategorie „Behinderung“ zu eng. Wie sich die Vorstellung von Normalität über die Jahrhunderte gewandelt hat und dass sie auch zwischendurch nie frei von Widersprüchen war, belegen diverse im Handbuch aufgeführte Quellen aus Literatur, Kunst, Verwaltung und Archäologie.

Es braucht allerdings einen Kunstgriff, um ihnen das Gesuchte auch wirklich zu entlocken. Denn auch wenn die Menschen mit Beeinträchtigung längst nicht nur an den Rändern der Gesellschaften unterwegs waren, sind sie doch nur höchst selten unmittelbares Thema der Kultur. Der Trick, der angewendet werden muss, ist aus den Gender Studies bekannt: Es geht darum, bei der Lektüre nicht den Intentionen des Autors zu folgen und hoffnungsvoll nach kurzen Nebensätzen über die Marginalisierten zu suchen, sondern die Geschichte der „gesunden weißen Männer“ gegen den Strich zu lesen und zu fragen: „Was sagt das negativ eigentlich über alle anderen?“

Von der Frauenbewegung hat die Wissenschaft gelernt, dass auch und gerade Quellen, die Männer über andere Männer geschrieben haben, eine Menge über die Geschlechterordnung verraten – wenn auch eben nicht immer ganz freiwillig. Vergleichbare Ursprünge in den Neuen Sozialen Bewegungen haben auch die Dis/ability Studies, wenn sie an den Aktivismus der Behindertenbewegungen ab den 70er-Jahren anknüpfen. In weniger kämpferischem Ton zwar, in der Sache aber doch genauso radikal.

Texte wie die in diesem Handbuch, die derart fundiert vorführen, auf was für wackeligen Füßen unser historisches Allgemeinwissen steht, sind in unseren postkritischen Zeiten ein echtes Geschenk, das muss man sagen. Das Handbuch versteht sich denn auch ausdrücklich als Beitrag zu einer gesamtgesellschaftlichen Debatte. Es richtet sich nicht nur an Historiker*innen, sondern genauso an Menschen, die in inklusiven Zusammenhängen arbeiten – überhaupt an die gesamte interessierte Öffentlichkeit. Und das ist gut so, denn Quellen kritisch zu lesen ist zwar die Kernkompetenz (nicht nur) der Geschichtswissenschaften, gilt im Schulunterricht aber bis heute leider meist nur als Kür für Fortgeschrittene.

Am interessantesten ist das Buch da, wo es den Wandel von Einstellungen am doch sehr heutigen Maßstab der Inklusion bemisst. So lässt sich aus Benimmbüchern lernen, dass Behindertenwitze im Laufe der frühen Neuzeit zunehmend als unangemessen galten und schließlich zum Tabu wurden. Tatsächlich neu war wohl, wie es im Buch heißt, dass „nun Mitleid als angemessene Reaktion auf beeinträchtige Mitmenschen angesehen wurde“.

Damit wären wir wieder bei den Worten, die man heute nicht mehr sagt. Und wer nun klären will, ob das unbestreitbare Mehr an Humanismus nicht wieder ganz eigene Ausschlussmechanismen hervorgebracht hat, ist gut beraten, sich mit der Vorgeschichte unserer Debatten auseinanderzusetzen. Dieses Handbuch ist dafür mindestens ein sehr guter Anfang.

Cordula Nolte, Bianca Frohne, Uta Halle, Sonja Kerth (alle Hrsg): Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch, Didymos-Verlag, 512 Seiten, 58 Euro