Allein, arm, abgestempelt

Nach 20 Jahren Arbeiten und Aufstocken ist die alleinerziehende Mutter von drei Kindern endlich los vom Amt – und spürt erst jetzt, welchen Druck sie stets hatte. Ihre älteste Tochter merkt schon früh, dass ihre Familie anders ist – und findet heute, dass sie davon profitiert hat. Beide Perspektiven – getrennt voneinander erzählt

Von Susanne Messmer
(Protokolle) und Katja Gendikova (Illustrationen)

„Sozialhilfe-Mama wollte ich auf keinen Fall werden“

Die Mutter: „Viele denken, dass Weihnachten schwierig sein muss, wenn es einem so geht wie mir. Aber Weihnachten ist trotzdem immer etwas ganz, ganz Besonderes bei uns. Erstens, weil wir es uns einfach schön machen miteinander. Zweitens, weil ich dafür auch in den schlimmsten Zeiten immer das ganze Jahr über gespart habe. Auf Weihnachten konnte man sich einrichten. Schwieriger war, dass Kinder einfach wachsen, wann sie wollen. Und dann müssen sie plötzlich von oben bis unten eingekleidet werden, ob es gerade passt oder nicht.

Dabei wollte ich nie eine Sozialhilfe-Mama werden, die nichts macht. Das ging gar nicht. Ich bin in Neukölln mit meiner Mutter und meinem Bruder groß geworden. Meinem Vater bin ich drei Mal begegnet. Dann hat es mir gereicht. Nach meinem Realschulabschluss habe ich eine Ausbildung als Erzieherin begonnen. Das habe ich dann im zweiten Berufsfachschuljahr abgebrochen. Ich wollte nichts Soziales mehr machen. Ich wollte Rechtsanwaltsfachangestellte werden und habe vom Arbeitsamt einen Lehrgang an der Fachakademie der Wirtschaft finanziert bekommen. Aber da meinten die Lehrer zu mir, ich hätte so viel Potenzial im Sozialbereich, dass ich eigentlich studieren müsste. Das hatte mir bis dahin noch keiner zugetraut. Ich bin ja Legasthenikerin. Also wollte ich meine Ausbildung zur Erzieherin fortsetzen.

Im November hatte ich die Zusage einer Schule, und im Januar habe ich erfahren, dass ich schwanger bin. Ein Jahr nach der Geburt meines Kindes durfte ich das zweite Berufsschuljahr auslassen und direkt an der Fachschule anfangen. Aber nach dem ersten Jahr gab es Probleme in der Kita. Meine Tochter war aggressiv und dauernd krank. Eines Tages fand ich heraus, dass sie von einer Erzieherin geschlagen worden war. Das war ihr letzter Tag an der Kita. Als ich endlich einen Platz in einer wunderschönen Montessori-Kita für Anna* bekommen hatte und die Eingewöhnung geschafft war, war mein Kind wie ausgewechselt. Aber ich hatte an der Schule zu viele Fehlzeiten gehabt und musste im Sommer noch mal von vorn anfangen. In der Zeit habe ich mich von Annas Vater getrennt, einen neuen Mann kennengelernt und bin wieder schwanger geworden. Als Sophia ein halbes Jahr alt war, habe ich mir eine Tagesmutter gesucht, damit ich meine Ausbildung weitermachen kann. Nach dem zweiten Fachschuljahr kam die Anerkennung, aber dann die Trennung von Sophias Vater und ich wurde krank. Ich habe Rheuma bekommen, musste ins Krankenhaus. Erst ein halbes Jahr später habe ich meine Anerkennung fortgesetzt.

Mein drittes Kind habe ich von einem Mann bekommen, der war kein guter Mensch. Er war wirklich krank und gewalttätig zu meinen Töchtern. Als ich schwanger wurde, hatte ich Probleme mit dem Amt und einige Wochen lang nur mein Ausbildungsgeld von 700 Euro. Ich hatte so wenig Geld, dass ich gerade so Lebensmittel für die Kinder kaufen und selbst nur noch auf Arbeit essen konnte. Ich bekam richtige Absencen, bin morgens aufgestanden und wusste nicht mehr, was zu tun ist.

Da habe ich eine Mutter-Kind-Einrichtung an der Nordsee angerufen. Die haben mir gesagt, dass ich die Kinder einpacken und einfach kommen soll. Es war so schön da. Ich konnte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig schlafen. Wir hatten ganz liebe Betreuer, die haben mir von Hacke bis Macke geholfen. Sie haben mir Komplimente gemacht, wie toll meine Kinder sind, wie toll ich mit ihnen bin. Wir sind ein halbes Jahr dort geblieben. Ich habe meine beiden Mädchen dort taufen lassen. Und dann ist Leo im September zur Welt gekommen. Erst später habe ich erfahren, dass diese Einrichtung ganz schön kämpfen musste, bis sie das Geld für meinen Aufenthalt vom Jugendamt in Berlin zurückbekommen hat.

Nach Leos Geburt sind wir zurück nach Berlin, Leos Vater war verschwunden und ich habe Familienhilfe bekommen und eine Therapie angefangen. Als Leo ein knappes Jahr alt war und zur Tagesmutter konnte, habe ich meine schriftlichen Arbeiten geschrieben und meine Ausbildung abgeschlossen. Da war ich 30 Jahre alt. Und habe dann 30 Stunden die Woche angefangen zu arbeiten, erst in Marzahn, dann in einer Kita hier bei uns um die Ecke. Seit anderthalb Jahren arbeite ich dort 40 Stunden die Woche.

Ich habe den Kontakt zu den Vätern meiner Kinder einschlafen lassen, weil da immer zu viel Streit war und sie für die Kinder viel zu unzuverlässig waren. Mit Leos Vater war es schwieriger. Er wollte am Anfang Umgang, aber als er mich einmal auf der Straße geschlagen hat und ich eine Übergabebegleitung durchsetzen konnte, da kam er nicht mehr an mich heran und hat es aufgegeben. Keiner der Väter meiner Kinder konnte Unterhalt zahlen, ich musste also bei allen Unterhaltsvorschuss beantragen. Als ich anfing, Teilzeit zu arbeiten, hatte ich meist um die 1.200 raus. Hinzu kam der Unterhaltsvorschuss, der aber bis 2017 nur sechs Jahre lang gezahlt wurde. Außerdem wurde er mit dem Kindergeld verrechnet, so dass vom Unterhaltsvorschuss weniger als 200 Euro pro Kind geblieben sind. Ich hatte immer etwas mehr als Hartz IV, weil um die 200 Euro vom Gehalt nicht angerechnet wurden.

Ich war immer arbeiten, wenn ich irgendwie konnte, habe also immer nur aufgestockt. Das Schlimmste daran war, dass jede Änderung bearbeitet werden musste. Und die Neuberechnung beim Jobcenter kann eben ein bisschen dauern. Einmal waren sie der Meinung, dass ich Wohngeld bekommen sollte. Dann hat mir das Wohngeldamt ausgerechnet, dass mir kein Wohngeld zusteht. Das habe ich dann zum Jobcenter geschickt und bekam die Antwort, dass mir doch Wohngeld zusteht und ich habe zurückgeschrieben: Nein, Sie haben es doch schriftlich. Dann die wieder: Doch. Und ich wieder: Nein. Manchmal hatte ich in einem Monat fünf verschiedene Berechnungen. Und ich hatte immer Angst, weil ich nicht wusste, ob ich im nächsten Monat mein Geld kriege oder nicht.

Schlimm sind auch diese Sprüche im Umfeld, dass man vom Amt alles geschenkt bekomme. Aber das stimmt nicht. Man bekommt nichts geschenkt. Zum Beispiel Zahnersatz. Man muss ja trotzdem seinen Eigenanteil zahlen – nur weiß man nicht, wovon! Dieses falsche Bild, das die meisten haben, ist total demotivierend. Als ob man nicht sowieso dauernd das Gefühl hätte, nie alles schaffen zu können, die Arbeit in der Kita, Schichtdienst, Vorbereitungen von Festen und Projekten, dann nach Hause, die eigenen Kinder, Kochen, Haushalt, der Papierkrieg.

Es gab auch immer wieder Lehrer, die meine Kinder abgestempelt haben. Bei denen war ich die alleinerziehende Asoziale. Weil ich aber will, dass man mir zuhört, informiere ich mich vor einem Gespräch, frage viel nach und argumentiere. Einmal mussten wir trotzdem die Klasse wechseln.

Es gibt tolle Bearbeiter im Jobcenter. Aber viele haben einem ständig Steine in den Weg gelegt. Oft habe ich im Jobcenter Sätze gehört, die man nicht wieder vergisst. So nach dem Motto: ,Alleinerziehend und Ausbildung zur Erzieherin? Ach so. Da kommen Sie ja aus Hartz IV sowieso nie mehr raus.‘ Die Ämter machen einen wirklich kaputt.

Schlimm sind auch diese Sprüche im Umfeld, dass man vom Amt alles geschenkt bekomme. Aber das stimmt nicht

Heute bin ich ganz weg vom Amt. 2017 konnte ich anfangen, Vollzeit zu arbeiten, im selben Jahr kam das neue Unterhaltsrecht. Man bekommt seitdem bis zum 18. Lebensjahr der Kinder Unterhaltsvorschuss. Ich merke erst jetzt, wie viel Druck ich die ganze Zeit über hatte. Es ist das Schönste und das Größte, nicht mehr von denen abhängig zu sein.

Am Anfang konnte ich gar nichts sparen. Weil wir nur noch den teuren Käse geholt haben, den wir so mögen. Dann habe ich aber angefangen, jeden Monat ein bisschen was zur Seite zu packen. Und als dann wieder mal der Moment kam, dass plötzlich alle drei neue Sachen brauchten, sind wir einfach los. Ich habe zum Beispiel für den Kleinen etwas mehr als hundert Euro ausgegeben und er hatte plötzlich zwei, drei neue Hosen, die auch richtig sitzen, neue Sweaties, neue Unterhosen, eine neue Jacke. Und ich war deshalb nicht gleich im Minus. Das war genial.

Ein anderes Beispiel: Sophia ist neulich mit der Schule zum Wandern gefahren. Ich konnte ihr Wanderschuhe kaufen, die passen, einen Wanderrucksack, der hält. Da hatte ich ein sehr schlechtes Gewissen. Meine Große, Anna, war ja auch vor vier Jahren wandern. Sie hat sofort Blasen bekommen, weil ich ihr keine Wanderschuhe kaufen konnte.

Ja, das tut mir am meisten leid. Dass Anna schon so früh so vernünftig sein musste.“ (*alle Namen geändert)

„Ich weiß, was echte Probleme sind“

Die Tochter: „Was ich so höre, was andere zu Weihnachten bekommen: Na ja. Wir freuen uns auch über eine Tasse oder über Ohrringe, die zwei Euro gekostet haben. Weihnachten ist total schön bei uns. Wir frühstücken zusammen, gammeln rum, gucken ,Kevin allein zu Haus‘ und am frühen Nachmittag putzen wir uns so richtig fein heraus. Dann gehen wir in die Kirche und dann zu Oma. Und abends spielen wir immer Spiele und wer gewinnt, darf aussuchen, welches Geschenk ausgepackt wird. Mir ist kein Weihnachten im Kopf, an dem ich enttäuscht gewesen wäre.

Ich kann mich nicht erinnern, wann es mir zum ersten Mal richtig aufgefallen ist, dass wir arm sind. Als ich klein war, da fand ich es höchstens komisch, wenn Mama öfter gesagt hat, dass sie keinen Hunger hat. Ich habe erst viel später verstanden, dass sie dann immer Angst hatte, etwas zu essen, weil zu wenig da war. Aber ich weiß noch, dass ich schon früh darüber nachgedacht habe und auch traurig war, als ich mitbekam, dass eine gute Freundin von mir mit ihren Eltern ganz schön viel verreist ist. Für uns war es krass, wenn wir mal übers Wochenende an die Ostsee gefahren sind.

Richtig schwierig wurde es erst, als ich älter wurde. Wenn mich Freunde eingeladen haben, ins Kino zu gehen, musste ich oft ablehnen, besonders gegen Monatsende. Die einen gingen reiten und ich ging zur Jungen Gemeinde. Ich meine, ich helfe gern, soziales Engagement liegt mir, aber es kostet halt auch nichts. Und dann mein Aussehen. Ich habe ein bisschen mit meiner Figur­ zu kämpfen. Ich wurde deswegen auch eine Zeit lang gemobbt. Deshalb hätte ich gern coolere Klamotten getragen. Meine Freunde haben viel öfter neue Sachen bekommen. Bis heute hängen in meinem Kleiderschrank viele Sachen, bei denen ich genau weiß, von wem ich sie bekommen habe. Ich hätte mir gern einen eigenen Style aufgebaut. Eins der blödesten Erlebnisse war der Wandertag vor vier Jahren. Ich hatte keine richtigen Wanderschuhe, nur alte Turnschuhe, und habe mir sofort Blasen gelaufen. Der Rucksack ist auch gleich kaputtgegangen.

Ich hatte trotzdem keine schlechte Kindheit, ich hatte nur eine andere Kindheit. Wir waren zu Hause in den Ferien, die Freunde waren nicht da. Also mussten wir uns was einfallen lassen. Eine Zeit lang haben wir aus Kartons Autos gebaut, oder einen Pferdestall. Wir haben Geschichten geschrieben. Dazu hat uns unsere Mama angeregt.

Ich hatte schon das Gefühl, dass ich zu Hause mehr helfen musste als die anderen, weil ich einfach die Älteste war und mehr machen konnte. Das hat mich manchmal auch genervt. Andererseits habe ich mich auch in Streitsituationen eingemischt und versucht, eine Elternrolle zu übernehmen und da hat Mama zum Glück immer gesagt, dass ich die Klappe halten soll.

Ich wollte mir von klein auf immer selber die Haare machen, und Mama hat mich gelassen, auch wenn es aussah wie Kraut und Rüben. Ich kenne Leute in meinem Alter, die nicht einmal wissen, wie man ordentlich saugt. Meinem Exfreund habe ich mal drei Stunden lang gezeigt, wie man ohne Lücken zwischen dem Hin und dem Her und unter und hinter dem Sofa und in den Ecken saugt. Kochen konnte er auch nicht. Da habe ich oft gedacht: Mama, danke.

Natürlich haben wir uns oft auch richtig in die Wolle bekommen, Mama war gestresst von der Arbeit, ich hatte Probleme in der Schule, dann ist es hier manchmal total eskaliert und die Türen sind massiv geflogen. Auch heute denke ich manchmal: Mensch, Mama, halt doch einfach die Klappe und akzeptiere meine Art und Weise.

Es war für mich verdammt schwer, dass ich mein Leben lang keinen Vater hatte. Aber andererseits hat uns das auch alles zusammengeschweißt. Es sind halt nur wir vier. Wir sind durch dick und dünn gegangen. Wenn es Probleme gibt, wissen wir, dass wir füreinander da sind. Sie kann mich immer um Hilfe bitten, und ich kann wegen jeder Kleinigkeit zu ihr kommen, egal welche Scheiße ich gebaut habe. Seit ich nicht mehr zu Hause wohne, telefonieren wir jeden Tag miteinander oder ich bin hier.

Bei vielen Lehrern war ich der Liebling, weil ich immer brav war. Aber manchmal bin ich in der Schule auch von Lehrern gemobbt worden. Ich habe mir ja wie gesagt immer die Haare selbst gemacht. Wenn die Lehrer dann noch wussten, dass ich aus einer finanziell schwachen Familie komme, haben sie mich manchmal abgestempelt. Meine erste Lehrerin war total schlimm. Die hat auch mal gesagt, dass ich nicht so dreckig zur Schule kommen soll. Eine andere Lehrerin hat mich mal angemeckert, weil ich gerade nicht das Geld für ein Buch hatte, das zehn Euro gekostet hat, und da bin ich dann an die Tafel gegangen und habe ihr vorgerechnet, wie viel Geld ich am Anfang des Monats habe und wie viel ich am Ende übrig habe. Da ist sie still geworden.

Ich habe krassen Respekt vor meiner Mama. Sie hat alles für uns gemacht

Insgesamt würde ich sagen, dass mir diese Erfahrungen geholfen haben. Ich weiß, was Ungerechtigkeit ist und kann mich verteidigen. Ich weiß, was echte Probleme sind und wann ich wirklich sagen muss: Hey, das funktioniert so nicht. Und bei kleinen Pro­blemen bleibe ich cooler als andere.

Vielleicht wollte ich deshalb ursprünglich Lehrerin werden. Ich habe im letzten halben Jahr versucht, am Oberstufenzentrum Abi zu machen. Nur war ich zu oft krank und wurde nicht ins nächste Halbjahr versetzt, aber ich habe sowieso neue Pläne. Ich will eine Ausbildung als Rechtsanwaltsfachangestellte anfangen. Vielleicht kann ich ja dann später irgendwann noch mal studieren und Anwältin werden. Ich wohne gerade im betreuten Wohnen und bekomme Hilfe zum Lebensunterhalt vom Jugendamt. Demnächst läuft das aber wahrscheinlich aus und ich müsste Hartz IV beantragen und das würde ich total gern vermeiden.

Mama musste immer tausend Briefe beantworten. Das will ich auf keinen Fall. Ich will das meinen Kindern nicht antun. Ich will ihnen ein besseres Leben ermöglichen. Trotzdem habe ich krassen Respekt vor meiner Mama. Sie hat alles für uns gemacht. Sie hat sich Hilfe geholt, als es nicht mehr weiterging. Sie wird immer mein Idol bleiben.“