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Die Dialektik des Bauchgefühls

Der Sammelband „Genießen verboten. Über die Regulierung der kleinen Freuden des Lebens“ animiert dazu, noch mal einen kräftigen Nachschlag zu nehmen. Das Buch würdigt Genuss als zivilisatorische Errungenschaft

Demokratie ernst nehmen und Freiräume für Genuss verteidigen

Von Lars Klaaßen

Der Januar ist die Zeit der guten Vorsätze, allen voran die asketisch gefärbte Variante des guten Essens, sprich: weniger und gesünder. Glaubt man Christoph Lövenich und Johannes Richardt, ist das jährlich wiederkehrende Ritual, sich solche Ziele zu setzen, ein bedenkliches Symptom unserer Lebensweise: „Genießen gilt zunehmend als problematisch. Unser Essen soll von Fett, Zucker und Salz befreit werden. Ab zwei Bier am Tag wird man zum Alkoholiker.“ Diese Einschätzung war der Anstoß zu dem von ihnen herausgegebenen Sammelband „Genießen verboten“. Die Grundthese des Buches lautet: „Freiheit und Genuss gehören zusammen. Mündige Menschen wissen für sich selbst am besten, was und wie sie genießen wollen.“

Gesundheit nutzen

Eine internationale Gruppe von Autoren verteidigt in ihren Beiträgen Genuss als zivilisatorische Errungenschaft, analysiert die gesellschaftlichen Hintergründe der Regulierung, kritisiert die Akteure und fragt nach deren Interessen. Johannes Richardt betont auch die politische Bedeutung hedonistischer Lebensfacetten: „Wer es mit der Demokratie ernst meint, muss Freiräume für selbstbestimmten Genuss nicht nur zähneknirschend tolerieren, sondern sie als Ausdruck einer zivilisierten Gesellschaft verteidigen und sich fragen, wie diese in Zukunft erweitert werden können.“ Bertolt Brechts These, zuerst komme das Fressen, dann die Moral, hat sich im Alltag unserer Wohlstandsgesellschaft umgekehrt. Weil wir schlicht mehr als genug zu futtern haben, soll die Moral nun unsere Art zu essen regeln. Ob wir dabei wirklich mündig agieren, stellt das Buch infrage.

Zu den wichtigen Werten beim Essen zählt medizinisch wie gesellschaftlich die Gesundheit. Aber: „Ein gesundes Leben ist – allen gegensätzlichen Behauptungen zum Trotz – nicht gleichbedeutend mit einem guten Leben“, betont Martin Dannecker in seinem Beitrag. „Wir leben ja nicht, um gesund zu bleiben, sondern wir möchten gesund bleiben, um möglichst lange ein Leben zu führen, das sich zu leben lohnt.“ Dass Nahrung zunehmend als potenzielle Gefahr dargestellt wird, scheint es umso schwieriger zu machen, Genuss und Gesundheit in Einklang zu bringen.

„Das Müsli schmeckt zu gut, weil es Sucht erzeugenden Zucker enthält. Fleisch macht aggressiv, nachdem die Rinder während ihres Lebens ohnehin schon den Klimawandel durch Blähungen beschleunigt haben.“ Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der im Buch aufgeführten Liste. „Und wer nicht vegan lebt, sondern die traditionelle Küche liebt, den bringen zur Strafe die Eier durch Herzinfarkt um, so hatte man uns über 30 Jahre eingebläut – bis die Cholesterin-Warnung zurückgenommen wurde“, führt Detlef Brendel aus. „In der Tat zeigt die nüchterne Betrachtung, dass jeder, der ein Leben lang gegessen hat, am Ende verstorben ist. Wir haben eine Sterblichkeit von 100 Prozent.“

Nun könnte die Ernährungsforschung uns dabei helfen, dieses dicke Ende zumindest hinauszuzögern. Aber – siehe Eier und Cholesterin – ist sie dazu überhaupt in der Lage? „Welche Auswirkungen das Essen hat, ist Gegenstand unzähliger Studien“, so Uwe Knop. „Doch seriöse Empfehlungen für eine gesunde Ernährung lassen sich daraus nicht ableiten.“ Da jeder Organismus Nahrung unterschiedlich verarbeite, könnten auch keine allgemeinen Ernährungsempfehlungen ausgesprochen werden. Knop zufolge empfiehlt es sich, in vernünftigen Mengen von allem zu essen und dabei „die Lust und den Spaß nicht zu verlieren“. Das Bauchgefühl als guter Berater bei Tisch: „Vertrauen Sie beim Essen daher intuitiv auf ihre ganz individuellen Gefühle Hunger, Lust, Sättigung und vor allem Verträglichkeit“, rät Knop. „Denn: Wie kann etwas gesund für Sie sein, das Ihnen nicht schmeckt und das Sie schlecht vertragen?“

Askese für den Hedonismus

„Über die Regulierung der kleinen Freuden des Lebens“. Christoph Lövenich und Johannes Richardt (Hg.), Novo Argumente Verlag, 2018. 200 Seiten. 12 Euro

Wer übrigens Ende Januar seine guten Vorsätze, weniger und gesünder zu essen, noch nicht aufgegeben hat, findet auch in diesem Buch gute Gründe, noch eine Weile standhaft zu bleiben: „Wahrscheinlich drehten sich die ersten Askeseübungen – etwa Fastenbräuche – bereits um das Problem der Begrenzung und Unbegrenztheit von Genuss“, erläutert Gesine Palmer. „Denn ohne Zeiten des Nicht-Genießens kann man kaum intensive Genussgefühle haben.“

Das Wünschenswerte oder das, was in der Askese zunächst angestrebt wurde, war laut Palmer eine gute Balance zwischen Genuss, der auch mal unkontrolliert sein konnte, und Kontrolle, die nachhaltigen Genuss ermöglicht: „Problematisch wird es für mich, wenn Askese der einzig erlaubte Genuss ist, der Verzicht überbewertet und der Genuss abgewertet wird.“

Viel Erfolg also Ihnen allen mit Ihren guten Vorsätzen – bis zum nächsten Gelage.