Mehr Frost, bitte

Das Eis des Baikalsees in Sibirien Foto: Mikolaj Gospodarek/mauritius images

Jetzt, wo die Kälte in die Finger zieht und in die Füße, wo der Schauder den Körper wie mit kaltblütiger Schlangenhaut bedeckt und die Wangen im Gesicht vom eisigen Wind trocken und rissig werden, jetzt, wo es frostig ist und alle die Straßen entlangeilen, dabei das Gleiche hinter sich lassen wollend, die Kälte nämlich, die derzeit wie eine Erinnerung an früher, als die Winter noch strenger waren, sich auf alles legt, auf Mensch, Tier, Häuser, nackte Bäume und Dinge, sollte so etwas wie Dankbarkeit aufkommen. Denn es zeigt: Der Frost ist nicht Schrecken, sondern Gefälligkeit, weckt er doch Mitgefühl für all die anderen, die, wie man selbst, frierend durch die Stadt gehen. Anders als die soziale Kälte macht Frost alle gleich. Frierend wird der Wunsch groß, dass niemand frieren möge.

Einmal lernte ich ein Gedicht auswendig. Es ging etwa so: „Der große Wagen ist umgekippt: / schief, / deichselabwärts, so hängt er / über der Kiefer am Waldrand. / Durch die Nacht geht der Mann, / die Axt unterm Mantel, ihm hilft / kein Dichter, kein Sternbild / er friert.“

Ich erinnere mich nicht, ob das Gedicht so vollständig ist. Und ich meine, Wolfdietrich Schnurre hat es geschrieben, obwohl es den Sound von Wolfgang Borchert hat. Eines indes macht das Gedicht deutlich: Kaum jemand wird den Mann verurteilen, der verbotenerweise Holz schlagen will, um seine Stube zu heizen.

Frost, so wird hier argumentiert, macht Menschen glücklich, weil er ihnen zeigt, dass Menschsein und Mitgefühl zusammengehören. Und ja, als brauche es diese Bestätigung noch, wird bereits über die Großzügigkeit berichtet, die den Obdachlosen in den U-Bahnen entgegenschlägt, weil Frost Warmherzigkeit stärkt. Der Klimawandel aber, der immer wärmere Winter beschert, ist folglich also vor allem eins: Lehrmeister der Kaltherzigkeit. Waltraud Schwab