Gemeinsam ganz allein

In Jenny Beyers Tanzstück „Début“ wollen vier Tänzer*innen die Begegnung zwischen Performern und Publikum erforschen. Aber dem Abend fehlt dafür die Offenheit

Getanzt wird voller Hingabe, aber das Publikum spielt, anders als angekündigt, gar keine Rolle Foto: Thies Rätzke

Von Katrin Ullmann

Ein unentwirrbar scheinendes Menschenknäuel kauert seitlich der Bühne. Gliedmaßen überlagern sich, Gesichter sind verdeckt. Wie viele Körper sind da ineinander verstrickt? Rot, schwarz, Haare, Stoffe, Füße, Pullover, Strumpfhosen. Nur langsam schält sich ein Körper heraus und betritt die leere, mit weißem Tanzboden ausgekleidete Bühne, ein weißer Fond begrenzt sie zur Rückwand. Nina Wollny tritt heraus aus der Körperskulptur und übernimmt das erste Solo dieses Abends auf Kampnagel in Hamburg, drei weitere werden folgen. Von Chris Leuenberger, Matthew Rogers und schließlich von der Choreografin selbst: Jenny Beyer.

Mit ihrem Stück „Début“ will Beyer (erneut) die Begegnung mit dem Publikum erforschen. Ein Thema, das die Hamburgerin schon lange umtreibt und eines, mit dem sie immer wieder in ihren „Offenen Studios“ arbeitet. Während der Proben lädt sie das Publikum ein, an der Entwicklung ihrer Stücke teilzuhaben. Ganz bewusst sucht sie den Austausch, den Einfluss. Und womöglich sieht sie im Zuschauer einen Komplizen. Mehr vielleicht, als der Zuschauer sich selbst in dieser Rolle sehen mag. Sicherlich ist jedes Bühnenereignis eine Begegnung zwischen Performer und Publikum. Doch in dem Maße, in dem sich Beyer diese Interaktion herbeidekliniert, geht die Rechnung kaum auf.

Nacheinander machen die vier Soli durch die ganz unterschiedliche Körperlichkeit der Tänzer*innen, durch schnelle oder ruhige, meist post-klassische Bewegungsabfolgen, vier verschiedene Assoziationsräume auf. Mal fragend und ausbalancierend, mal animalisch, dann wieder beunruhigt, zögernd – und immer mit einer hohen Präzision, mit einer fast traumwandlerischen Sicherheit. Je etwa 15 Minuten lang ist die einzelne Tänzer*in im Scheinwerferlicht den Blicken des Publikums ausgeliefert.

Unbeirrt und unbeirrbar

In ihrer Nahbarkeit, in ihrer exhibitionistischen Zerbrechlichkeit berühren die vier Auftritte. Sie scheinen von Zweifeln zu erzählen und vom steten Austarieren bei Nina Wollny; vom Eratmen einer Stimmung und von der Möglichkeit des rohen Ausdrucks bei Chris Leuenberger; von Rausch, Aggression und Lust bei Matthew Rogers; und von einem Repertoire an fragenden Gesten und suchenden Erinnerungen bei Choreografin Beyer.

Untermalt, zum Teil auch getrieben von minimalistischen Rhythmen, von Klavierakkorden, manchmal auch nur von geloopten Atemgeräuschen (Musik: Jetztmann), verbreitet der Abend eine friedliche, fast beruhigende Stimmung. Die Bewegungen sind schön, die Bühne ist minimalistisch, die Tänzer hoch qualifiziert, sie erobern sich den Raum voller Kraft und Hingabe. Man kann sich der Ästhetik des Abends schwer entziehen. Zu gern verliert man sich in den anmutigen und athletischen Abfolgen, in den getanzten Gedankenwelten der Performer*innen.

„Können die Solist*innen – im Angesicht ihres Publikums – ihre Handlungsautonomie bewahren?“, fragt der Pressetext. Diese Überlegung scheint für Beyer gewissermaßen die Gretchenfrage zu sein. Und auch wenn sich aus ihrem langjährigen, festen Ensemble an diesem Abend erstmals jeder Einzelne aus der Gruppe herauslöst, jeder seine Besonderheiten, seine ganz eigene Kunst darbietet – der Zuschauer bleibt Betrachter. Er ist in dieser Konstellation zwar das eigentliche Gegenüber, hat aber keinen (sichtbaren) Einfluss auf die jeweilige Choreografie, auf die Stimmung oder die nächsten Schritte. Zu entschieden sind die Abläufe gezeichnet, zu verbindlich die bühneninternen Verabredungen getroffen.

Unbeirrt und scheinbar unbeirrbar, dazu oftmals vom Zuschauer abgewandt, erzählen die vier Solisten von der einsamen Vereinzelung des Tänzers genauso wie von der herrlichen Lust an der ungeteilten Aufmerksamkeit. Was fehlt, sind raue Stellen, Brüche, Irritationen. Und so dreht dieser Abend ein wenig zu glatt und geschmeidig seine Pirouetten, und seine glatte Oberfläche bleibt ganz ohne Kratzer.

Sa, 19. 1., 20 Uhr, Hamburg, Kampnagel