berliner szenen
: 2019 ist gold, orange und rot

Fit mit Fett“, „Nie wieder Bad-Hair-Days“, „Dieses Jahr wird alles besser“. Jede Menge Zeitschriften mit solchen Schlagzeilen sich angucken zu dürfen, ohne sich dabei zu schämen, ist das Schönste beim Arzt. Im Gegenteil, man macht es mit einer „Was soll ich sonst machen?“-Haltung, als wären die PatientInnen gezwungen, die tausendmal angefassten Lesekreispublikationen trotz ihrer Bakterien in die Hand zu nehmen.

Bei meiner Ärztin ist das Handyverbot überall mit Schildern signalisiert. Zum Lesestoff gibt es bei ihr eine wechselnde Fotoausstellung, da ihr Kollege Hobbyfotograf ist. Meer, Sonnen­untergang, Tiere und vor allem Tier­babys sind seine Motive. Fernweh, Sehnsucht nach Gesundheit. Auch einige Artikel („Krankenschein: Arbeitstage oder Kalendertage?“), Paragrafen der neuen Datenschutzverordnung und Karikaturen darüber hängen in Folien an einer Wand.

„Dit kapier ick nich“, sagt eine grauhaarige Frau mit Brille, die mit ihrem Mann im Partnerlook (weiße Pullover, helle Hose) mir gegenübersitzt. Der Mann seufzt und verdreht die Augen. Sie fasst ihn am Arm und flüstert ihm etwas ins Ohr, er seufzt wieder. „Es pocht“, sagt sie lauter. Eine junge Frau mit Dreadlocks nimmt sich die Brigitte. Ein Junge mit Käppi und Adidas-Pulli spielt mit seinem Handy und wird von der Rezeptionistin angesprochen.

Ein Mal im Jahr färbt sich die Rezeptionistin die Haare. 2019 trägt sie eine herbstliche Mischung: Gold, Orange und Rot. Jedes Mal, wenn ich ohne Termin komme, guckt sie mich schräg an und sagt nichts. Diesmal zielt sie mit einer Art Laserpistole auf meine Stirn, ohne zu sagen, dass es ein Fieberthermometer ist. Im Wartezimmer grüßen sich alle mit „Auf Wiedersehen“, als hätte man sich groß unterhalten und würde beim nächsten Arztbesuch die Konversation fortsetzen.

Luciana Ferrando