Im Netzwerk der Verbindungen

Zwei Ausstellungen würdigen den 2016 verstorbenen Berliner Kunstmaniac Frank Wagner und beantworten nebenbei die vertrackte Frage: Was macht eigentlich ein Kurator?

Frank Wagner in der Ausstellung „Félix González-Torres (1957–1996)“ von RealismusStudio in der nGbK Berlin, 1996 Foto: Jürgen Henschel

Von Ingo Arend

Eine Art der kulturellen Befruchtung“ – „Unmögliches möglich machen“ – „Ungeheuer anstrengende Aufgabe“. Hans Ulrich Obrist wand sich, als er vor ein paar Jahren versuchte, seinen Beruf zu beschreiben. In seinem 2014 erschienenen Buch „Kuratieren“ reihte der polyglotte Schweizer Kunstmann mit Dienstsitz London um die zehn Definitionen aneinander. Ohne eine oft gestellte Frage wirklich beantworten zu können: Was macht eigentlich ein Kurator?

Es mag unangemessen sein, eine Strukturfrage des Kunstbetriebs in den Vordergrund zu stellen angesichts einer Ausstellung, die eine bestimmte Person daraus würdigen soll. Aber Frank Wagner wirkt wie der Paradefall der Quadratur des Kreises, die von einem Kurator erwartet wird: die Kunst wie den Künstler, die Öffentlichkeit, die Institution, den Diskurs und irgendwie auch sich selbst zu „pflegen“ – der Wortsinn des Kuratierens.

Aus den Hinterlassenschaften des 2016 überraschend verstorbenen Kunstmaniacs, gerade einmal 57 Jahre alt, so etwas wie eine Leitidee zu destillieren, dürfte nicht einfach gewesen sein. Denn der Wahlberliner betrieb kein gut geöltes Art-Business, war kein Starkurator heutigen Windschnitts.

Als prototypischer Prekarier agierte er immer am Rand des finanziellen und organisatorischen Abgrunds. Stolz trug er den Euphemismus für diesen Wahnsinn wider jede existenzielle Vernunft namens „Independent Curator“. Nie war er je an einer Kunsthalle oder einem Museum angestellt. Als er starb, hinterließ er eine kleine Wohnung, chaotisch voll gestopft mit Büchern, Kunst und Notizen.

In einer Slideshow in der kleinen Ausstellung, die ihm die Kunst-Werke (KW) weniger als zwei Jahre nach seinem Tod gewidmet haben, kann man diese Deponie noch einmal in Augenschein nehmen. Irgendwo zwischen Papierstapeln, verstaubten Bilderrahmen und Hanteln muss die Grenze zwischen Kunst und Leben dann verloren gegangen sein.

Den in 70 Pappkartons provisorisch gesicherten Wust nur schon gesichtet zu haben, grenzt an eine Herkules-Tat. Erst recht, dass sich aus dem Parcours, den Christin Lahr und Vincent Schier aus diesem Heuhaufen auf engem Raum ebenso pietätvoll wie analytisch inszeniert haben, tatsächlich eine Antwort auf das ewige Rätsel „Kuratieren“ herauslesen lässt: Themen (durch-)setzen.

Von Rechts wegen hätte diese Ausstellung in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) stattfinden müssen, in die Wagner 1979 eintrat. Schließlich diente sie ihm bis zuletzt als „homebase“ seiner Arbeit. Aber in den Kunst-Werken hatte er dem 1992 an Aids gestorbenen Künstler David Wojnarowicz eine Gedächtnisausstellung gewidmet. Da darf sich der Kreis in der Auguststraße schließen.

Lahr und Schier, beide – wie Wagner – Mitglied im legendären „RealismusStudio“ der nGbK, haben die zwei Räume im Vorderhaus der KW weder in eine Andachts- noch in eine Kultstätte verwandelt. Wie ein Zeitstrahl ziehen sie eine Leiste gerahmter Fotos durch die Schau, die jede seiner gut 110 Ausstellungen dokumentieren.

Der beeindruckende Längsschnitt durch die bundesrepublikanische Kunstgeschichte reicht vom Göttinger Kunstmarkt 1985, auf der Wagner mit einem seltsamen Ensemble durchlöcherter Möbel debütierte, bis zum Deutschen Pavillon der Dubai Photo Exhibition, den er kurz vor seinem Tod 2016 kuratierte.

Er war ein Pionier von Queer und Gender, bevor es die Begriffe gab

Dabei bleibt die markante Figur immer präsent: Eine Fototapete mit Jürgen Henschels Bild des hageren, hochgeschossenen Wagner, der wie eine poetische Figur mit sacht geneigtem Kopf und verlegenem Blick durch einen Vorhang aus funkelnden Glasschnüren tritt, eröffnet die Schau.

So bat Wagner 1996 zur Vernissage seines im selben Jahr verstorbenen Freundes und „heroes“, des kubanischen Künstlers Félix Gonzáles-Torres in der nGbK. „Ich hoffe, dieser Brief erreicht Dich bei guter Gesundheit und Laune. Ich habe an Dich gedacht“ hatte der ihm im August 1991 auf einer der vielen, in einer Vitrine ausgebreiteten Postkarten geschrieben.

In einem Nebenraum hängt das bunt gestreifte Jackett, in dem er auf Vernissagen auftauchte. In einem Video aus dem Todesjahr 2016 erklärt er dem deutschiranischen Kurator und Künstler Sharam Entekhabi seine Arbeit: Mit nach vorn gerecktem Kopf fixiert er sein Gegenüber so eindringlich wie ernsthaft, redet unaufhörlich, rudert mit beiden Händen. Ihn trieb eine fast kindliche Leidenschaft.

Wohl kaum ein Thema hat Wagner so nachhaltig im internationalen Ausstellungszirkus implementiert wie den Zusammenhang von Sexualität und Politik. Er war ein Pionier von Queer und Gender, bevor es die Begriffe überhaupt gab. Die alte 68er-Weisheit, dass das Private politisch ist, wurde bei ihm unübersehbar.

Was heute kuratorischer Mainstream ist, war 1988 noch ein Wagnis. Mit der Ausstellung „Vollbild AIDS – Eine Ausstellung über Leben und Sterben“, der ersten Ausstellung zu HIV in Europa, betrat Wagner ästhetisches und politisches Neuland. Damals wollte ein CSU-Politiker namens Peter Gauweiler HIV-Patienten noch zwangskasernieren. Hinter diese „landmark“-Schau gibt es kein Zurück.

Es gäbe Anlass, Wagner zur queeren Ikone zu stilisieren. So wie ihn die „Label“-Künstlerin Susi Pop 2011 auf einem rosafarbenen Bild mit grün umkränztem Kopf verewigt hat. Zur Erinnerung an seine wegweisende Ausstellung „Das achte Feld. Geschlechter, Leben und Begehren“ 2006 im Museum Ludwig hat Peter Knoch eine Miniaturausgabe des „Stone­wall Inn“ nachgebaut, das damals in Köln als Bar diente: ein Nachbau des New Yorker Häuserblocks, in dem sich die Bar „Stonewall Inn“ befindet. Hier brach 1969 der Aufstand der New Yorker Schwulenszene los.

Wie sehr den immer verbindlich auftretenden Wagner das ungreifbare „Begehren“ auch selbst prägten, ahnt man bei zwei frühen Aufnahmen. 1991 posierte er für Aura Rosenberg’s Orgasmus-Porträts „Head Shots“ mit verzücktem Gesicht und Barbara Kruger-T-Shirt „Your body is a battle­ground“. Und Hajo Corstens Frontalansicht von 1989, das ihn mit einem Blütenblattfächer vor dem nackten Oberkörper zeigt, sieht aus wie eine Kreuzung aus Robert Mapplethorpe und Karl Blossfeldt.

Wagners Schreibtisch, Detailansicht aus „Ties, Tales and Traces“, Kunst-Werke Foto: Ingo Arend

Um seinen eigenen Triebquell ging es Wagner aber nie allein. Er kuratierte Ausstellungen wie „Der telematische Raum“ 1995 in der nGbK, 1992 und 2002 zwei vorbildhafte Retrospektiven des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar. Oder die Ausstellung „Contemporary Utopia“ 2001 in Riga. Wie er an der ästhetischen Form hing, zeigen die Alvar-Aalto-Blumenvasen, die er sammelte.

Elf der nierenförmigen in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts entworfenen Glasgefäße des finnischen Designerpaars legen die ästhetische Spur durch die Schau, die ihm Wolfgang Tillmans und Eugen Ivan Bergmann in Tillmans’ Wilmersdorfer Projectspace „Between Bridges“ gewidmet haben. Aus Wagners privater Kunstsammlung haben sie eine spannende Assemblage aus High and Low zusammengestellt. Da findet sich eine Holzkohlezeichnung von Paula Schmid im klassisch-expressionistischen Stil von 1985 neben Susi Pops Acrylbild „Der Schnurrbart der Ulrike Meinhof“ von 2000 oder Peter Knochs Holzschnitt „Snax“ von 2002. Darauf posieren ein paar aufgegeilte Typen auf der gleichnamigen legendären Fetisch-Sexparty im Berliner Club Berghain. Als verbindendes Glied zwischen dem gut zehn Jahre später geborenen Tillmans und Wagner fungiert David Wojnarowicz auf einem Silverprint Peter Hujars aus der Sammlung von Tillmans.

Die kleine Ausstellung schert sich nicht um Gattungen. Sie ist intim, ohne zu entblößen: ein Rendezvous des Amis im Medium ihrer Kunst. In diesem unsichtbaren Gespinst der „Ties ­Tales and Traces“ entsteht eine Ahnung dessen, was Frank Wagners Kuratieren ausmachte: der eigenen Leidenschaft folgen, sie aber verallgemeinern, in ein Display transformieren, in Beziehung setzen.

Und das andere, sagt die Künstler-Kuratorin Lahr nachdenklich auf die Frage nach dem Kern dieser ominösen Tätigkeit „ist wohl dieses Netzwerk der Verbindungen, das dabei entsteht“.

Ties, Tales and Traces. Dedicated to Frank Wagner, Independent Curator (1958–2016). Kunst-Werke, Auguststraße 69, bis 5. Mai; Between Bridges, Keithstraße 15, bis 16. März

Ingo Arend lebt als Autor und Kritiker in Berlin. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft bildende Kunst (nGbK). Dort arbeitete er mit Frank Wagner zusammen.