Identität bis aufs Blut

Die Jugendsparte am Theater Bremen beschäftigt sich in „Boy“ mit transphober Gewalt und fragt nach dem Einfluss der Biologie aufs soziale Miteinander

Nichts mit unbeschwerter Jugend: der homophobe Nachwuchs in „Boy“ Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

Von Lotta Drügemöller

Tom steht vorm Publikum, in seinem weiten Jurassic-Park-Kapuzenpulli. Er ist einem recht sympathisch, dieser fröhliche, einfach gestrickte Junge – gut gelaunt gespielt von Jannes Weber. Man hört die Euphorie in seiner Stimme, als er in mit großen Gesten vom Neuen in der Gruppe erzählt, von Chris. Und dann, abrupt, fast absatzlos, in seinem Monolog die Wende des Stückes herbeiführt: Tom ekelt sich jetzt vor Chris. Weil Chris trans ist und früher mal Christine hieß.

In „Boy“, der neuen Inszenierung des Moks am Theater Bremen, hat sich Dramaturgin Sabrina Bohl lose an der wahren Geschichte von Brandon Teena orientiert, der 1993 von zwei Männern aus seinem Freundeskreis vergewaltigt und ermordet wurde, als sie von seiner Transsexualität erfuhren. Als „Boys don’t cry“ wurde die Geschichte 1999 verfilmt.

Seit Oktober haben sich sieben Bremer Schauspieler*innen zwischen 17 und 21 Jahren unter der Regie von Christiane Renziehausen damit beschäftigt, wieso biologische Fakten eine so große Rolle im zwischenmenschlichen Umgang spielen. Herausgekommen ist eine Geschichte von Akzeptanz und Ablehnung, Identitätssuche und jugendlicher Gruppendynamik.

Chris, überzeugend verkörpert von Anne Leira von Poppel, strandet in der leicht prolligen Clique einer Vorstadt, die ihre Jugend auf geradezu klischeehafte Art auslebt: Die drei Mädels und zwei Jungs feiern krasse Partys, suchen die Gefahr und den Stress mit anderen und betonen ihre Loyalität nach innen. Auf den ersten Blick scheint Chris nicht ganz in diese Gruppe zu passen. Er mischt mit – aber von Poppel gibt ihrer Rolle oftmals eine gewisse Distanz zum Geschehen: Sie lässt Chris Szenen kommentieren, über sich selbst in der dritten Person redend („Ein junger Mann steht dort.“); Chris lächelt viel – aber er wirkt dabei häufig eher verlegen als glücklich. Und statt auf der Tanzfläche mitzupogen, steht er da und filmt seine neuen Freunde mit dem Smartphone. Die Videos werden auf die Bühnenwände projiziert.

Und doch: Chris kommt gut an. So gut sogar, dass Macho John (Hale Richter) schon früh versucht, den Neuen zurecht zu stutzen, um seine Rolle als Alphatier nicht zu verlieren. Johns Missgunst steigt noch, als Chris mit Lana anbändelt. Die junge Frau, die Schauspielerin Geraldine Rummel glaubwürdig aufrecht spielt, erfährt schon bald von Chris’Geheimnis – und akzeptiert es. Aber als Chris’ Identität auch dem Rest der Clique klar wird, eskaliert die Lage.

Rot angemalte Lippen und zwei Monologe reichen aus, um die Vergewaltigung bedrückend nah an den Zuschauer heranzuführen. Die anderen Schauspieler*innen sind in ihren Rollen wie erstarrt. Teilnahmslos, abwesend, lassen sie den Gewaltexzess geschehen.

Das Polizeiverhör doppelt die Vergewaltigung im Loop: immer wieder

Dramaturgisch ist das behutsam gemacht. Inhaltlich könnte der Gewaltexzess jedoch wie ein allzu plumper Plottwist wirken. Ist diese Zuspitzung wirklich nötig? Hätte Chris nicht etwas subtiler leiden können? Wäre nicht eine wohltemperierte „Ja, aber“-Abneigung viel plausibler gewesen, zeitgeisttypischer?

Aber nein, schließlich ist es die Wirklichkeit, die genau diese Geschichte erzählt. Für 2018 waren am jährlichen Transgender Day of Remembrance 309 Opfer zu beklagen – zusammengeschlagen, verbrannt, erschossen, gefoltert. Auch in Deutschland wurden 2017 rund 300 Straftaten registriert, die sich gegen die sexuelle Orientierung oder die Geschlechtsidentität richteten – die Dunkelziffer soll hoch sein.

Die ungefilterte Gewalt der jugendlichen Täter ist die schmerzhafte Spitze der Geschichte. Dass die Probleme tiefer gehen, Vorurteile und Nicht-Akzeptanz in der Mitte der Gesellschaft verankert sind, greift das Stück ebenfalls auf – in einer der stärksten und beklemmendsten Szenen: Als Chris seine Anzeige bei der Polizei aufgeben will, muss er sich dort drängenden Fragen stellen – den selben, die auch sein historisches Vorbild Brendan Teena über sich ergehen lassen musste. Immer wieder stellt der Chor der Mitspieler diese Fragen, wie im Loop, sich langsam überlagernd. „Haben sie gesehen, wie er das Kondom aus der Packung genommen hat?“, „Also noch mal: Tom hat Sie von hinten penetriert und John von vorne?“, „Warum haben Sie sich als Junge ausgegeben?“, „Sie müssen zugeben, dass das seltsam ist.“ Dennoch: Es gibt eine Art Happy End. Lana hält zu ihrem Freund, die beiden wirken glücklich. Das Stück blendet hier gnädig aus. In der Realität wurde Brendon Teena Tage nach seiner Vergewaltigung von seinen Peinigern ermordet.

Wieder am 16., 17., 20., 23. und 24. 2., 19 Uhr, Theater Bremen, Brauhaus