„Lange mit mir herumgetragen“

Ein Leben, vier Möglichkeiten: In einer Dokumentation für den TV-Sender Arte gewährt der New Yorker Schriftsteller Paul Auster Einblicke in die Arbeit an seinem Roman „4321“

Nur in seinem Haus: Paul Auster Foto: Levy/Medeafilm

Von Isabella Caldart

Er wirkt fast verschmitzt, als er spricht. „Unerwartete Dinge geschehen mit einer gewissen Regelmäßigkeit und ich versuche, mich darauf einzulassen, dass die Dinge geschehen, wie sie geschehen.“ Mit diesen Worten Paul Austers beginnt die TV-Dokumentation „Was wäre wenn“ (ja, ohne Komma) von Sabine Lidl. Die Szenerie: eine Wohnung in einem klassischen Brownstone in Park Slope, einem gehobenen Viertel im New Yorker Bezirk Brooklyn. Seit rund 30 Jahren leben Paul Auster und Siri Hustvedt hier, das berühmteste Schriftstellerpaar der USA. Susanne Lidl, die deutsche Regisseurin, lange mit ihnen bekannt, hat sie dort besucht, um mit Auster über die Entstehung seines Opus Magnum „4321“ zu sprechen.

Unerwartete Dinge, genau darum geht es in „4321“, um vier mögliche Biografien eines einzelnen Lebens. Die Idee dazu, so erzählt der Autor, kam ihm eines Samstagmorgens beim Tee, und bereits innerhalb weniger Stunden habe sich der Protagonist herauskristallisiert. „Vielleicht habe ich diesen Archie Ferguson schon lange mit mir herumgetragen, ohne dass mir das bewusst war.“ Keine dieser vier Varianten sei er selbst, wehrt Auster ab. Dennoch: Die Überschneidungen mit den Eckdaten seines eigenen Werdegangs springen ins Auge. Und so ist „4321“ für Lidl der Ausgangspunkt, um tiefer in das Leben von Paul Auster einzudringen – soweit das in einer Dokumentation mit einer Länge von 53 Minuten möglich ist.

Auster erweist sich als redselig, gibt Einblicke in seine behütete Vorortskindheit und spricht über sein Verhältnis zum Vater und ein Familiengeheimnis, das dieser mit ins Grab nahm. Die schwierige Beziehung von ihm zu seinem Sohn, der wiederholt mit dem Gesetz in Konflikt geriet, hingegen wird ausgespart, auch dessen Mutter Lydia Davis, Austers erste Frau, kommt nicht zu Wort; Sabine Lidl konzentriert sich auf die Jugend des Schriftstellers.

April 1968

Großartig hier: Aufnahmen, die Demonstrationen vom April­ 1968, kaum drei Wochen nach der Ermordung Martin Luther Kings, von Studierenden der Columbia University zeigen, unter ihnen auch Paul Auster. Diese Proteste richteten sich nicht in erster Linie gegen den Vietnamkrieg, sondern gegen den Bau einer Sporthalle in Harlem, die geplant war mit einem eigenen Eingang für die Anwohner, zu großen Teilen Afroamerikaner – im Gegensatz zu den zumeist weißen Studenten der Columbia.

Neben diesen zeithistorischen Exkursen geht es immer wieder um die aktuelle Situation in den USA. Denn auch wenn „4321“ laut Auster kein politisches Buch ist, so beeinflussten ihn gesellschaftliche Ereignisse beim Schreiben. Zudem kommen Weggefährten zu Wort, darunter selbstverständlich Siri Hustvedt, aber auch der Künstler Sam Messer sowie Wim und Donata Wenders. Deren Szene, gefilmt während einer Taxifahrt in Berlin, ist die einzige, die atmosphärisch ein wenig aus dieser ansonsten so stimmigen Doku herausfällt.

„Was wäre wenn“ ist zwar eine Dokumentation, hat aber auch einen künstlerischen Anspruch. Da sich Auster beharrlich nur in seinem Haus filmen ließ, läuft an seiner Stelle der Schauspieler Aaron Altaras als junger Auster (oder Ferguson, je nach Interpretation) durch ein zeitloses New York, das durch körnige Aufnahmen eine entsprechende Patina erhält. Übrigens: Bei der Premiere im Literaturhaus Berlin verriet Sabine Lidl, dass sie derzeit dabei sei, eine anderthalbstündige Fassung für Festivals zu schneiden, in der mehr auf Austers Judentum und seine fehlende Anerkennung als Regisseur eingegangen wird, ein Thema, das ihn sehr beschäftigt. Wir dürfen also auf weitere spannende Einblicke in das Leben Paul Austers hoffen.

„Paul Auster – was wäre wenn“ 13. Februar, 21.50 Uhr, Arte