Neorealismus vom Nil

Vielfältig und virtuos, produktiv und politisch: Das Kino Arsenal widmet dem ägyptischen Regisseur Youssef Chahine (1926 – 2008) eine überfällige Retrospektive

Wider Korruption und Elend: „Al Asfour“ („Der Sperling“, 1972) gilt als zentraler politischer Film Chahines Foto: Arsenal – Institut für Film und Videokunst

Von Fabian Tietke

Juni 1967: Inmitten der Remilitarisierung der Sinaihalbinsel durch Ägypten, die zum Sechstagekrieg führen sollte, geht der junge Polizist Raouf in einem Dorf gegen Korruption vor. Die Entstehungsgeschichte von Youssef Chahines Film „Al Asfour“ („Der Sperling“) reicht zurück bis in die Zeit direkt nach dem Sechstagekrieg, der mit einer vernichtenden Niederlage Ägyptens und seiner Verbündeten endete. In einer Texteinblendung zu Beginn des Films schreibt Chahine: „In allen Hauptstädten der arabischen Welt kommen Jugendliche auf mich zu: ‚Youssef, was ist im Juni 1967 passiert? Woher kam die Niederlage?‘“

Chahines Film konnte erst nach dem Tod des ägyptischen Präsidenten Nasser 1970 entstehen. Dessen Tod fällt in Chahines Werk zusammen mit einem Umbruch: weg von einer Reihe epischer Historienfilme der Jahre davor hin zu Filmen, in denen Chahines Gespür für politische Spannungen in der Gesellschaft erkennbar wird. In einer cinephilen Großtat widmet das Berliner Kino Arsenal Youssef Chahines Filmschaffen, das fast 60 Jahre umspannt, im März eine Werkschau.

Chahine wurde 1926 in Alexandria als Kind eines libanesischen Vaters und einer griechischen Mutter geboren und verbrachte Kindheit und Jugend in der Stadt. 1950 stellt er seinen ersten Film fertig: „Baba Amin“ („Papa Amin“) ist eine autobiografisch gefärbte tragische Komödie mit Showeinlagen. Amin, Vater und kleiner Angestellter, lässt sich von einem Bekannten zu einem windigen Geschäft überreden, kurz darauf verschwindet der Bekannte. Chahine zeichnet die Vaterfigur nach seinem eigenen Vater, webt Sing- und Tanzeinlagen ein, um seinen Star, die Schauspielerin Faten Hamama, zur Geltung zu bringen.

Ein Jahr später, 1951, wird Chahine mit „Ibn al-nil“ („Sohn des Nils“) zu den Filmfestspielen nach Cannes eingeladen. Der Film ist eine Art Halbstarkenfilm. Ein junger Mann aus einer bäuerlichen Familie, die am Nilufer lebt, rebelliert gegen die Enge und geht schließlich in die Stadt, wo er sich mit Ganoven einlässt. Chahine zeigt dabei das bäuerliche Leben am Nilufer und die Spannungen in der Dorfgemeinschaft mit großer Präzision. Der Film wird zu einer ersten Visitenkarte für Chahine im internationalen Festivalbetrieb.

Ein paar Jahre später folgt mit „Bab al-hadid“ („Kairo – Hauptbahnhof“) von 1958 ein noch größerer Erfolg. Der Gepäckträger Abu Serei und der klumpfüßige Zeitungsverkäufer Qenawi lieben beide die junge Hanuna. In der kleinen Welt rund um den Hauptbahnhof von Kairo kreuzen sich ihrer aller Wege und es entspinnt sich ein Drama um Liebe und gesellschaftliche Konflikte. Für seine Darstellung Qenawis hätte Chahine bei der Berlinale beinahe einen Silbernen Bären als Schauspieler gewonnen.

1979 beginnt Chahine eine Reihe autobiografischer Filme, die zunächst bis in die 1980er Jahre zu einer Trilogie heranwächst. 2004 wird er einen vierten Film nachschieben. „Iskindereya … leh?“ („Alexandria … warum?“) beginnt in Alexandria während des Zweiten Weltkriegs. In der von Briten besetzten Stadt träumt der junge Yehia davon, Schauspieler zu werden. Durch sein Alter Ego Yehia erzählt Chahine von dem im Rückblick utopisch anmutenden Zusammenleben der Konfessionen in Alexandria.

In den 1990er Jahren entzündet sich an Chahines Vorliebe für religiöse Themen wiederholt der Zorn von religiösen Fundamentalisten – christlichen und islamischen. In „Al mohager“(„Der Emigrant“) von 1994 wählt Chahine die Geschichte Josefs aus dem Alten Testament als Vorlage und wird nach dem Kinostart hintereinander von Islamisten und christlichen Fundamentalisten verklagt.

Drei Jahre später, 1997, drehte er mit „Al massir“ („Das Schicksal“) erneut einen utopischen Historienfilm. Darin setzt sich Chahine mit dem Erstarken des politischen Islam auseinander, indem er eine Geschichte aus dem 12. Jahrhundert erzählt und das Wirken Ibn Rushds (Averroes) im arabischen Andalusien utopisch-fiktionalisiert. „Das Schicksal“ zeigt Ibn Rushd und seine Anhängerschaft als eine utopische Enklave bedrängt von religiösen Fundamentalismen.

Youssef Chahine war bis zu seinem Tod 2008 einer der produktivsten Filmemacher Ägyptens. Das allein würde eine Werkschau schon rechtfertigen. Die fortwährende Abwesenheit arabischer Filmgeschichte auf deutschen Kinoleinwänden aber macht die Werkschau, die unter anderem von einer Podiumsdiskussion begleitet wird, zu einem Ereignis.

Unter dem Titel „Youssef Chahine Again and Forever“ läuft im Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, vom 1. bis 31. März eine Chahine-Retrospektive mit einem Rahmenprogramm und einer Begleitbroschüre, www.arsenal-berlin.de