Berlin lässt dich sein, wie du bist

87 Millionen Mal wurde „Berlin“ von Ry X allein bei Spotify gestreamt. Der Hipster fasste das Berlin-Lebensgefühl der Internationals von Neukölln in einen vielleicht etwas zu kitschigen Song. Nun feiert Ry X sein Mallorca

Klagend sang Ry X einst von „Berlin in the cold“ und „all that snow“Foto: Kacey Tomita

Von Thomas Winkler

Jetzt auch noch Mallorca. Ry X mag nicht mehr in Berlin leben, dafür hat er die deutscheste aller Inseln für sich entdeckt. Allerdings: Das „Mallorca“, das der Australier in dem gleichnamigen Track auf seinem brandneuen Album „Unfurl“ beschreibt, könnte nicht weiter entfernt sein vom Ballermann. „Auf meinem Mallorca schwimme ich nackt im Meer, esse Trauben und Pfirsiche, trinke Wein und liege mit ein paar wunderbaren Freunden auf einem Felsen. Mallorca ist für mich: Einfachheit, Schönheit, Natur.“ Ja, dieses Mallorca gibt es auch.

Das Berlin allerdings, dem der Singer-Songwriter mit seinem bekanntesten Song ein Denkmal setzte, das ist akut vom Abriss bedroht. Das hat auch der mittlerweile 34-jährige Musiker festgestellt. „Jedes Mal, wenn ich zurück nach Berlin komme, ist es wieder ein bisschen anders.“

Ein bisschen anders als im Mythos von Berlin als Partymetropole, in der eine internationale Kreativboheme dank billiger Mieten 24 Stunden durchfeiert und nebenbei die Kulturwelt auf den Kopf stellt. Genau diesen Mythos hatte Ry Cuming vorgefunden, als er im Winter 2011/2012 in ein gewohnt grimmiges Berlin kam – und ungeplant ein paar Jahre blieb. Obwohl dem im australischen Hippieparadies Woodford Island aufgewachsenen begeisterten Surfer das Klima gar nicht gefiel, „habe ich mich schnell in die Stadt verliebt, in die Freiheit, die sie bot, auch die Anonymität, die Möglichkeit, einfach zu sein, wie man ist“.

Gleich in diesem seinem ersten Winter in Berlin entstand „Berlin“, der Song. Verträumte Gitarren, ein sphärischer Uhuhuh-Chor, die Stimme singt klagend, fast weinerlich von „Berlin in the cold“ und „all that snow“. Der Song und vor allem das dazugehörige Video trugen, als sie 2013 erschienen, dazu bei, den Berlinmythos hinaus in die Welt zu tragen.

In dem Kurzfilm rekelt sich Ry, den Oberkörper nackt, Basecap auf dem Kopf, auf einem schlampig abgezogenen Dielenboden, streichelt sich selbstverliebt durch die Brustbehaarung, bis eine blonde Schönheit, Rys damalige Freundin, an ihm heraufkrabbelt. In der Totale sieht man die beiden in einem vollkommen leeren Zimmer auf dem Boden liegen, während Ry den „bedroom floor“ besingt. Nun, Jahre später, erzählt er, dass der Videoclip mitnichten in einer Neuköllner Hinterhofwohnung aufgenommen wurde, sondern in einem Loft in Downtown Los Angeles.

Egal, es war passiert. Song und Video gingen um die Welt und prägten fortan das Bild, nach dem junge Menschen – ob sie aus Buxtehude stammten, aus der belgischen Provinz oder einer Suburb im Mittleren Westen – suchten, wenn sie nach Berlin kamen. Ry X verkörperte – dank Vollbart und wechselnden Kopfbedeckungen – den typischen Berliner Hipster, auch wenn das so nicht geplant war: „Ich hielt mich und mein Outfit natürlich – wie jeder andere auch – für einzigartig.“

Aber – viel wichtiger – Cuming stand nicht nur optisch für das coole Berlin, er vollzog auch den musikalischen Brückenschlag nach, für den die Stadt mittlerweile berühmt geworden war. In seinen Songs fand exakt die Symbiose zwischen Lagerfeuer und Dance­floor, zwischen Hippieseligkeit und elektronischen Beats statt, die an Orten wie der Bar25 exemplarisch entwickelt worden war. Die gab es, als Ry X nach Berlin kam, schon nicht mehr, aber er dockte an die Szene um die Panoramabar im Berghain und das Label Innervisions an.

Cuming allerdings weist alle Verantwortung weit von sich. „Ja, ich war Teil einer Entwicklung, aber da waren viele, sehr viele beteiligt“, sagt er. „Ein wenig Einfluss gehabt zu haben, das ist eine Ehre. Aber meine Rolle war nicht größer als die vieler anderer. Berlin hätte sich auch ohne mich genauso entwickelt.“ Das mag sein, aber Cuming wurde zum Posterboy und „Berlin“ zu seinem bis heute größten Hit – obwohl er sich auch für weitere Projekte Meriten verdiente. Sowohl Howling, wo er zusammen mit dem Berliner Produzenten und Innervisions-Mitgründer Frank Wiedemann an Club-Tracks arbeitet, als auch The Acid, sein All-Star-Projekt mit den aus aller Welt stammenden Produzenten, DJs, Labelbesitzern, Komponisten und Professoren Adam Freeland, Steve Nalepa und Jens Kuross, arbeiten aktuell an neuen Alben.

Aber es ist „Berlin“, das bis heute über 87 Millionen Mal allein bei Spotify gestreamt wurde. Kein anderer Ry-X-Song kommt auch nur in die ungefähre Nähe dieser Beliebtheit. Im Gegensatz zu manch anderem Künstler, der Angst hat, auf ein einziges Lied und dessen Erfolg reduziert zu werden und als One-Hit-Wonder in die Popgeschichte einzugehen, ist Ry X’ Verhältnis zu Berlin, Stadt wie Song, trotzdem weiter ungetrübt. Für den Song empfindet er „eine tiefe Liebe“, und die Stadt „hat einen festen Platz in meinem Herzen“.

„Ich hielt mich und mein Outfit natürlich für einzigartig“, sagt Ry X

An der Symbiose, die Cuming in Berlin gefunden hat, arbeitet er, auch wenn er nun in einer Künstlerkolonie in den Hügeln am Rande von Los Angeles lebt, auf seinem neuen Album weiter: „Ich lebe zwar am Rande von Los Angeles, einer der größten Städte der Welt, aber wenn ich vor die Tür gehe, bin ich tief in der Natur. Um diese Balance geht es mir – auch in der Musik. Die Stimmen von Klavier und Gitarre, Streicher und Orchester sind mir wichtig, aber genauso die andere Seite der Medaille, die Drum Machine und die Samples. Ich brauche beides, Natur und Stadt. Natur ist das Feminine, die Stadt ist das Maskuline, zwischen diesen Polen bewege ich mich.“

Berlin besucht er weiter oft, seine Verbindungen hierher sind vielfältig. Beim Berliner Termin der aktuellen Tournee begleiten ihn Mitglieder des Filmorchesters Babelsberg, regelmäßig trifft er sich mit Wiedemann, um an Stücken für das neue Howling-Album zu arbeiten. Zusammen organisieren die beiden seit Jahren das Sacred Ground Festival in der Uckermark, dessen fünfte Auflage im Juli stattfinden wird.

Wenn er in Berlin ist, übernachtet er, Ironie der Geschichte, mitunter in Zimmern, die alte Freunde oder Freunde von Freunden sonst über Airbnb vermieten. Am liebsten wohnt er in Neukölln, wo er damals gelebt hat. „Als ich nach Berlin kam, war Neukölln noch ziemlich schläfrig“, erinnert er sich. „Ich gehe immer noch in dieselben Cafés wie damals, ich kenne immer noch die Besitzer. Dann habe ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Aber natürlich schreitet die Gentrifizierung voran – wie an vielen anderen Orten der Welt. Ja, ich vermisse dieses Gefühl wahrer Freiheit, aber die Essenz von Berlin gibt es immer noch – und sie wird sich hoffentlich nie verändern.“

Ob er schon mal darüber nachgedacht hat, dem Berliner Tourimusmarketing in Rechnung zu stellen, dass er diese Essenz so vielen Menschen, die nun nach Berlin kommen, nahegebracht hat? Ry X lacht laut. Und weil er auch diesen einen Satz von Klaus Wowereit kennt, der sogar noch berühmter ist als sein Song, sagt er noch: „Berlin ist nicht mehr so arm, aber immer noch sexy.“

Ry X: „Unfurl“ (BMG Rights Management/Warner) Live: 7. März., 20 Uhr, Verti Music Hall