Auf dem Möbiusband zum Mars

„Realismus mit Schleife“ heißt die erste Ausstellung der neuen Leiterinnen des Kunstvereins Harburger Bahnhof und beschwört die Utopie freier, offener Räume

Im Zentrum steht die Frage: Wie hilft ein Kunstwerk, sich ein Bild von der Welt zu machen? Hier Chris Reineckes „durchlaessig-focussing“ Foto: Peter Schuhböck, Courtesy Chris Reinecke/Beck & Eggeling

Von Hajo Schiff

Am Ende der Rampe in den Wartesaal erster Klasse steht ein großer Buchsbaum. Das kugelrunde Schmuckgewächs ist sein eigener Brunnen und es hat, zwischen Kalauer und Referenz an Barockgärten, ein plastisches Hinterteil. In der Ausstellung und im Bar-Raum sind vom Hamburger Künstler Pablo Schlumberger auch trinkfreudige Putten verteilt, unter anderem mit einem Alkoholiker-Schlips, der ein heimliches Schnapsbehältnis enthält. Dazu wurde auch der Bartresen selbst unter Wasser gesetzt. Nicht weil vor dem 1895 gebauten Bahnhof mal eine Badeanstalt war, sondern weil es seit 1999 der Ort des Harburger Kunstvereins ist.

Die erste Ausstellung der neuen künstlerischen Leitung durch die Kunsthistorikerin Annette Hans und die Künstlerin und Kulturwissenschaftlerin Rebekka Seubert setzt die 1936 geborene Künstlerin Chris Reinecke ins Zentrum. So reicht das Spektrum der Arbeiten in der „Realismus mit Schleife“ betitelten Schau bis 1965 zurück.

„Realismus“ meint hier nicht die übliche kunsthistorische Kategorie. Es geht darum, was überhaupt ein Kunstwerk sei, und wie es hilft, sich ein Bild von der Welt zu machen. Und „Schleife“ kann zwar mit Binden und Lösen oder mit der philosophischen Vertracktheit des mehrdimensionalen Möbiusbandes assoziiert werden, aber schlicht auch mit der Idee, Kunst sei ein hübsches Geschenk.

Tatsächlich hat die trotz ihres einst gemeinsamen Ateliers mit Sigmar Polke, Gerhard Richter und F.-E. Walther heute wenig bekannte Chris Reinecke oft ihre Arbeiten verschenkt – schon in den Zeiten, als sie 1968 in Düsseldorf gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann Jörg Immendorf die legendäre Gruppe „LIDL“ gegründet hatte.

Zudem ließ sie seit 1967 das Publikum mitarbeiten, fand aber schon zwei Jahre später, dass bei so etwas nur noch Albernheiten entstanden. Immer war ihr es aber wichtig, dass das Publikum den künstlerischen Anlass weiterformuliert. Doch bei dem großen Papier mit den halbmondförmigen Ausschneidungen wäre die Erinnerung an Schatten auf den Satellitenschüsseln über Aleppo ohne den ausdrücklichen Hinweis der Künstlerin selbst schon ein wenig kühn.

Wie lange ist ein Kunstwerk gültig? Chris Reinecke hat ihre Arbeiten oft mit einem Stempel versehen, der die Haltbarkeitsdauer mit acht Monaten angibt. Das ist sicher nicht gerade auf den Kunstmarkt gerichtet. Ohnehin hat Chris Reinecke sich der Etablierung der Antihaltung verweigert und seit 1971 überwiegend politisch gearbeitet. Doch im Kunstbetrieb erscheinen ältere Arbeiten oft viel aktueller als Sachen von heute: Nicht zuletzt in ihrem feministischen Ansatz wird Chris Reinecke heute wiederentdeckt. Ihre Kleidungsentwürfe für den Straßenkampf von 1969 passen gut in den heutigen Kontext, zu den Graffiti von N.O. Madski oder den Stoffarbeiten von Martin Kohout; die Alltagszitate von Juliette Blightman treffen sich mit Reineckes collagierten Straßenbeobachtungen und Reiseplänen bis zum Mars.

Und all die Brüche, die mehrschichtigen Bilder und kombinierten Objekte im neuen parabolischen Raum beschwören die Utopie freier, offener Räume, die es immer wieder zu verteidigen gilt. Die generationsübergreifende Ausstellung ist schon mal ein gelungener Start des neuen Teams.

Bis 19. Mai, Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg