Ein Sarg für Mel Gibson

Der Kunstverein Hannover macht den Raum in der Kunst zum Thema seines Jahresprogramms. Zum Auftakt zeigt Manuel Graf eigenwillige Architekturfantasien

Gleichzeitigkeit von analogen Objekten und ihren digitalen animierten Entsprechungen: In seiner Serie „Doppelgänger“ kombiniert Manuel Graf Mobiliar und Monitore Foto: Raimund Zakowski

Von Bettina Maria Brosowsky

Mit dem Raum, speziell in der Kunst, beschäftigt sich dieses Jahr der Kunstverein Hannover. Ganz konkret physisch soll er untersucht werden, derzeit etwa mit einer leichten textiliengleichen Installation im zweiten Treppenhaus von Rachel von Morgenstern aus der Reihe „Stufen zur Kunst“. Aber es gibt den Raum auch im abstrakten Sinne: museal institutio­nell für eine Ausstellung, psychologisch in der Erinnerung bis hin zum politisch codierten öffentlichen Ort.

Den Auftakt der Ausstellungsfolge unternimmt nun der Düsseldorfer Manuel Graf mit einer zwischen materiellen Objekten und virtuellen Strategien, zwischen architektonischen Zitaten und Reminiszenzen der Kunstgeschichte, aber auch zwischen Orient und Okzident schillernden Ausstellung.

Graf, 1978 in Bühl geboren, hat bei der US-amerikanischen Bildhauerin Rita McBride an der Kunstakademie Düsseldorf studiert. Ähnlich seiner Lehrerin gilt sein künstlerisches Interesse Phänomenen der Architektur, zum Beispiel einer biomorphen Spielart. Als geistige Bezugsgrößen zeigt er im ersten Raum des Kunstvereins das Dornacher Goetheanum vom Anthroposophen Rudolf Steiner und rechnergestützte Metamorphosen durch den US-Architekten Greg Lynn. Und eine große Gipsskulptur, die das „Endless House“ des austro-amerikanischen Visionärs Friedrich Kiesler nachempfinden will.

Kiesler fand ab den 1930er-Jahren zu seiner „correalistischen Theorie“, einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen und seiner Umwelt. Physische, psychische, soziale, mythische und magische Bedingtheiten sollten in einem räumlichen und geistigen Kontinuum ihre Konkretisierung finden.

Grafs eigene Architekturfantasien sind da durchaus noch entwicklungsfähig. Er dekoriert etwa ein abstrahiertes virtuelles Modell des in Verruf geratenen Berliner Landesamts für Gesundheit und Soziales mit überdimensionalen goldenen Handys und Außenbordmotoren. Diese imaginierte Kunst am Bau thematisiert die für Flüchtende so lebenswichtigen Utensilien zum Manövrieren und Orientieren in der undefinierbaren Weite der Weltmeere.

In einer anderen Spekulation erspürt er in dem beklemmend geometrischen Geviert des Berta-von-Suttner-Platzes am Düsseldorfer Hauptbahnhof formale Parallelen zur islamischen Architektur. Die postmoderne Ausformulierung eines Torbogens nutzte Graf dann 2018 als nächtliche Projektionsfläche für orientalische Ornamente.

Glauben oder Zweifel

Auch mit der christlich-jüdischen Religion scheint Manuel Graf bestens vertraut. Ihn faszinieren tierische Metaphern reiner und unreiner Kreaturen, die als Kopf-Reliefs historische Architekturen zieren. Graf lässt sie im Tiefziehverfahren aus klinisch weißem Kunststoff neu entstehen, setzt leicht anachronistisch moderne Kulturzeugnisse wie Wählscheibentelefone zwischen die Arrangements.

Ein begleitender Film zeigt in Bildfragmenten die organisch anmutende Formentstehung der Reliefs, der Titel „Castle of Otranto“ spielt auf einen Schauerroman des 18. Jahrhunderts an. Damals wurden unergründliche Naturphänomene als oppositionelles Potenzial gegen die vorherrschende Aufklärung gesetzt, der angenehme Schauer war ein Stimmungsziel.

Stimmungsvoll, sakral aufgeladen: So lässt sich insgesamt die Ausstellungsinszenierung Manuel Grafs beschreiben, passgenau auf die Örtlichkeiten des Kunstvereins zugeschnitten. Am eindrücklichsten zeigt dies eine raumfüllende Installation im zentralen Saal, die ein großes Foto aus den Dreharbeiten des Epos „Passion Christi“ von 2004 verwendet, auf dem Mel Gibson dem Jesusdarsteller Regieanweisungen gibt.

Graf schafft zwischen ihnen eine Lücke, eine Fehlstelle: der blinde Fleck in Bezug auf die unterschiedlichen Auslegungen der Auferstehung Christi. Aber auch ein schwebender Sarkophag, wieder mit weißen tiefgezogenen Reliefs, vermag den Leerraum nicht zu füllen. Es bleibt der Glauben – oder Zweifel.

Bis 14. April, Kunstverein Hannover