Mögliche Juncker-Nachfolgerin Vestager: „Diese Frau ist der Hammer“

Margrethe Vestager hat Google zu Milliardenstrafen verdonnert. Nun will sie bei der Europawahl mitmischen – als Spitzenkandidatin der Liberalen.

Margrethe Vestager

Unbequem, eloquent, angstfrei: Margrethe Vestager Foto: dpa

BRÜSSEL taz | Margrethe Vestager ist eine Ausnahmeerscheinung in der EU-Kommission. Während die meisten Kommissare unauffällig vor sich hin werkeln, sorgt sie für Schlagzeilen. Eine taffe Frau, eloquent, charmant und angstfrei, die sich mit Tech-Giganten wie Google anlegt – das fällt auf. Die dänische Wettbewerbskommissarin ist eine der prominentesten Figuren in der Europäischen Union.

Seit Längerem kursiert in Brüssel das Gerücht, dass Vestager nach Höherem strebt. Sie könnte die erste Kommissionspräsidentin in der Geschichte Europas werden – und den Konservativen Jean-Claude Juncker ablösen. Es wäre eine kleine Revolution. Doch hat Vestager tatsächlich Chancen auf das Amt?

Eigentlich gilt der deutsche EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber als klarer Favorit für die Europawahl – und für den Posten des Kommissionspräsidenten. Seinem niederländischen Rivalen Frans Timmermans von den Sozialdemokraten wurden in Umfragen nur Außenseiterchancen eingeräumt. Doch nun kommt Bewegung in den lahmen Europa-Wahlkampf.

Weber hat über Nacht potenzielle Bündnispartner verloren. Der Grund ist sein Lavieren im Streit mit Ungarns Rechtsausleger Viktor Orbán. Grüne und Liberale haben klargestellt, dass sie nicht mit Weber zusammenarbeiten wollen, solange Orbáns Fidesz in der Europäischen Volkspartei bleibt. Die am Mittwoch beschlossene Suspendierung reiche nicht aus.

Reinhard Bütikofer, Chef der europäischen Grünen, sprach von einer „halbgaren, halbseidenen Nicht-Lösung“, die für Weber einen „erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust“ bedeute. Die FDP-Spitzenkandidatin Nicola Beer sagte: „Wenn Weber bei Fidesz und Forza Italia in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Demokratie nicht klare Kante zeigt, kann er kein Partner für uns sein.“ Dann könne Weber nicht auf die Stimmen der FDP zählen, wenn es nach der Europawahl um die Nominierung des Nachfolgers von Kommissionschef Juncker geht.

Man hat sie „Eiserne Lady“ getauft. Dabei kann die gefürchtete Kommissarin auch locker sein

Mit Vestager könnte Weber nun eine ernstzunehmende Konkurrentin erwachsen. Am Donnerstag haben die Liberalen sie in Brüssel für ein siebenköpfiges Spitzenteam nominiert. Es soll der Pool sein, aus dem die Liberalen Leute für Spitzenposten benennen, wenn sie zum Zug kommen. Vestager hat bereits angekündigt, Wahlkampf machen zu wollen.

Wer sich in der Brüsseler Behörde umhört, könnte glauben, sie sei jetzt schon Nummer eins. „Diese Frau ist der Hammer“, heißt es in der EU-Behörde, wo Vestager alle anderen Kommissare locker an die Wand spielt. Noch am Mittwoch spielte Vestager, die der sozial-liberalen Partei „Radikal Venstre“ angehört, wieder die erste Geige.

Bereits zum dritten Mal hat Vestager an diesem Tag eine Milliardenstrafe gegen Google verhängt. Der US-Konzern soll rund 1,49 Milliarden Euro berappen. Bei Suchmaschinen-Werbung im Dienst „AdSense for Search“ seien andere Anbieter unzulässigerweise behindert worden, so die oberste Wettbewerbshüterin der EU.

Das bewegt die Märkte – und nervt die Regierungen. Aus Sicht von US-Präsident Donald Trump dürfte Vestager die mächtigste Frau in Europa sein, noch vor Juncker. Aber auch mit Irland und anderen EU-Staaten hat sie sich schon angelegt – wegen unerlaubter Steuervergünstigungen für in- und ausländische Konzerne.

Man hat sie „Eiserne Lady“ getauft. Dabei kann die gefürchtete Kommissarin auch locker sein. Privat zeigt sie sich gern in Jeans und Sneakern. Vestager legt Wert auf ein ganz normales Familienleben. Neben ihrem Mann und ihren drei Töchtern Maria, Rebecca und Ella spielt auch Golden Retriever Karlo eine wichtige Rolle. Ihm trage sie manchmal wichtige Reden vor, heißt es.

Auf Stimmen anderer Parteien angewiesen

Zuletzt scheint Karlo jedoch versagt zu haben. Vestager fällte eine Entscheidung, die ihr massiven Ärger in Paris und Berlin eingebracht hat. Sie lehnte es ab, die geplante Fusion der Zughersteller von Siemens und ­Alstom zu genehmigen, mit der Deutschland und Frankreich einen „europäischen Champion“ hatten bilden wollen. Damit hat sie nicht nur Kanzlerin Angela Merkel und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (beide CDU) gegen sich aufgebracht. Sie hat es sich auch mit ihrem bisher wichtigsten Unterstützer verscherzt: Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Der will nun sogar die EU-Wettbewerbsregeln ändern, damit Vestagers „Fauxpas“ sich nicht wiederholt.

Heißt das, dass Vestager nicht auf Macrons Hilfe zählen kann, wenn es nach der Europawahl Ende Mai (23.–26. 5.) um die Wahl des nächsten EU-Kommissionspräsidenten geht? Diese Frage stellen sich in Brüssel viele – doch bisher gibt es darauf keine Antwort. Klar ist nur, dass Vestager auf die Stimmen anderer Parteien angewiesen wäre. Denn selbst zusammen mit Konservativen oder Sozialdemokraten hätten die Liberalen keine Mehrheit im Europaparlament.

Hier kommen die Grünen ins Spiel. Vestager taugt durchaus als Identifikationsfigur für Linksliberale. Eine Frau, die Apple und Google Dampf macht und endlich die grotesk mächtige Digitalwirtschaft einhegt – da bekommen manche Grüne leuchtende Augen. Vestager wird zur Projektionsfläche für alle, die sich mehr Schwung in der EU wünschen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die Aussicht, die ewige Vorherrschaft der konservativen EVP zu brechen, für manche verlockend ist.

Bei den Grünen gibt es Stimmen, die vehement für Vestager werben. Ihr Szenario sieht so aus: Wenn EVP-Mann Manfred Weber mit dem Versuch scheitert, eine Mehrheit im Parlament zu schmieden, sei alles möglich. Der Sozialdemokrat Timmermans rechne sowieso nicht mehr damit, Kommissionspräsident zu werden – und liebäugele eher mit dem Amt des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik. Dann könnten sich von links bis liberal alle Abgeordneten hinter Vestager versammeln, die liberalen Kräfte in der EVP eingeschlossen. „Endlich ist eine progressive Mehrheit denkbar, die die lähmende Wirkung der großen Koalition in Europa aufbricht“, sagt ein gut vernetzter Grüner.

Nur Gedankenspiele, mehr nicht

Hilfreich ist, dass Vestager nun in einem Spitzenteam sitzt. 2014 hat das Europäische Parlament das Spitzenkandidatenprinzip durchgesetzt. Demnach kann nur zum Kommissionspräsidenten gewählt werden, wer als Spitzenkandidat im Wahlkampf aufgetreten ist und eine Mehrheit im Parlament hinter sich bringt. Bis dahin hatten die RegierungschefInnen der EU-Staaten die Spitzenposten unter sich ausgekungelt.

Doch es sind Gedankenspiele, mehr nicht. Offiziell halten sich die Grünen alles offen. „Grüne Unterstützung gibt es nur für grüne Inhalte“, sagte Spitzenkandidatin Ska Keller der taz. Auch an Frau Vestager hätten die Grünen da ein paar Fragen, warum sie den Bayer-Monsanto-Deal zugelassen habe etwa – und warum sie fairem Handel und Ökologie durch ihre Wettbewerbspolitik manchmal den Riegel vorschiebe.

Kellers Ko-Spitzenkandidat Sven Giegold ergänzte, dass die Liberalen mit einer Siebener-Aufstellung den Spitzenkandidatenprozess unterliefen. Macron plus sieben Spitzenleute – das erinnere ihn an „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.