Mythos Sonnenallee

Einst hieß sie Braunauer Straße nach Adolf Hitlers österreichischem Geburtsort, heute ist sie als „Arabische Straße“ bekannt. Um die Sonnenallee in Neukölln ranken sich viele Mythen. Dabei ist die Realität schon spannend genug. Sechs Eindrücke von Menschen, die die Straße gut kennen
schwerpunkt 44–45

Handytarifangebote auf Arabisch Foto: André Wunstorf

Süßes Gebäck, leider in Plastik

Nein, Neukölln hat nicht die meisten arabischen Einwohner*innen – das soll laut Statistischem Landesamt der Bezirk Mitte sein (2017 circa 35.000 gegenüber 31.000 in Neukölln). Sicher ist jedoch, dass alle Araber*innen aus Berlin und sogar aus Brandenburg gern nach Neukölln in die Sonnenallee kommen – ihre „Arabische Straße“ schlechthin. Keine Straße in Berlin ist so laut, so voll, so quirlig, so dynamisch, verändert so schnell ihr Gesicht. Fahrschule folgt auf Friseur, Imbiss auf Lebensmittelmarkt, Hähnchenbraterei auf Shisha­bar. Meine „Arabische Straße“ sind die Bäckereien, mein Lieblingsgebäck ist Maamoul, frisch gebackene, gefüllte Kekse in drei Geschmacksrichtungen: Pistazie(!), Feige, Walnuss. Wer sie einmal probiert, ist ihnen verfallen. Leider muss man sie in umweltfeindlichen Plastikschachteln kaufen und hat große Mühe, die „dazugehörige“ Plastiktüte abzuwehren.

Bernd Szczepanski, Fraktionsvorsitzender der Grünen in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung und ehemaliger Sozialstadtrat

Ausgangspunkt und Rückzugsort

Meine Straße war mal, sagen wir: kein No-Go. Aber ein No-Interest. Wer in die Sonnenallee zog und womöglich noch eine prima luxussanierte Zweizimmerwohnung fand, bekam nur spärlich Beifall: Neukölln, da wohnte man nicht. Das ist anders geworden, nicht nur durch Erasmus-subventionierte Studierende, sondern seit 2015 auch und besonders durch Flüchtlinge, die dort kleine Inseln heimatlichen, meist syrischen Bewusstseins fanden. Lebensmittelläden, jede Menge Friseure, die sich wie autonome Männerzentren ausnehmen, so fern scheint die Idee, Frauen könnten sich dorthin verirren. Die Mieten haben inzwischen angezogen, sind fast so hoch wie rund um den Grunewald, nur mit metropolitanem Flair. Es ist eine schöne Straße, lifestylemäßig halbwegs in Balance zwischen jungen Menschen aus aller Welt – den Agenten der Gentrifizierung – und den neuen Bürger*innen. Nur die arabischstämmigen Kinder tun mir leid, die hier aufwachsen: null Chance, Deutsch zu lernen – und damit Teil des Landes zu werden. Eher hässlich wirkt, dass nach Einbruch der Dunkelheit draußen so gut wie keine Frauen zu sehen sind, abgesehen von den Hipster-Touristinnen, die in den in Reiseführern empfohlenen Lokalen leckere Nahrung nach arabischen Rezepten finden. Meine Sonnenallee ist der deutsche Ausgangspunkt für viele, sie ist zugleich kultureller Rückzugsort. Es bleibt spannend. Jan Feddersen, taz-lab-Kurator und taz-Redakteur

Kein guter Ort für Frauen

Ich bin 1995 geboren und habe dann 16 Jahre lang in einer Seitenstraße der Sonnenallee gewohnt. Damals waren da vor allem deutsche und türkische Geschäfte. Heute sind die Ladenbesitzer überwiegend arabischstämmig, darunter auch schon Syrer. Es ist schön, dass sie ihren Platz in unserer Gesellschaft finden. Aber mir als Frau ist die Sonnenallee unangenehm geworden. Man zieht dort zu viele Blicke auf sich. Nisa B., 23, Studentin

Dicke Autos, redlich verdient

Ich wohne um die Ecke von der Sonnenallee. Seit einiger Zeit führe ich manchmal Touristengruppen durch die Straße. Viele sagen, dass sie sich alleine nicht hingetraut hätten, weil sie dachten, dass das ein gefährlicher Ort sei. Sie sind überrascht, wie nett die Leute sind, wenn man mal in die Läden geht. Sie verstehen dort, dass nicht jeder dicke Benz an der Straße einem Dealer gehört, sondern viele eben auch hart arbeitenden Ladenbesitzer*innen, die sich mit ihren Geschäften eine Existenz in Berlin aufgebaut und sich ihren Wagen redlich verdient haben. Ich bummele gerne ab und zu durch die Straße und gucke, was es an neuen Läden gibt – nur freitags und samstags nicht, da ist es mir zu voll. Für die drei jungen Frauen kurdischer, türkischer und palästinensischer Herkunft (siehe Meryem, Nisa, Jamila), mit denen gemeinsam ich die Führungen mache und die alle rund um die Sonnenallee aufgewachsen sind, ist die „arabische Straße“ heute eher Folklore. Sie erledigen ihre Einkäufe lieber anderswo. Alke Wierth, taz-berlin-Redakteurin

Nicht mehr wie früher

Ich bin 1997 auf die Welt gekommen und habe von damals bis 2003 an der Sonnenallee gewohnt. Später bin ich um die Ecke zur Schule gegangen. Ich finde es traurig, wie sich die Sonnenallee verändert hat. Wo heute arabische Lebensmittel verkauft werden, gab es früher deutsche Supermärkte und viele einheimische Menschen. Es ist nicht mehr so, wie es damals war. Ich persönlich brauche die Sonnenallee als Einkaufsstraße nicht. Aber sie ist optimal für die syrischen Einwanderer, weil sie da einen Teil ihrer Heimat wiederfinden.

Meryem Ö., 22, Studentin

Mein Migrationshintergrund

Neukölln und vor allem die Sonnenallee sind meine Kindheit und meine Herkunft. Wenn man mich nach meinem Migrationshintergrund fragt, sollte ich eigentlich sagen, dass das die Sonnenallee ist. Heute besuche ich sie nur noch, um Fleisch oder Gewürze zu kaufen, nachdem meine Familie dort wegziehen musste, weil die Mieten zu teuer geworden sind. In der Sonnenallee duftet es nach arabischen Gerichten, Baklava und Tee. Sie ist eigentlich wie eine kleine arabische Stadt. Beliebt ist die Straße vor allem bei Studenten, Geflüchteten und Touristen aus aller Welt. Jamila (Name auf Wunsch geändert), Studentin