das schlaglo ch
: Aufstehen reicht nicht

Eintreten lautet die Devise! Über den Parlamentarismus in der Krise

:

MathiasGreffrath

lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Er ist Herausgeber von „RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ (Kunstmann, 2017).

Aufstehen“ zerbröselt. Vielleicht war es ja von Anfang an das falsche Mittel für den notwendigen Zweck. „Aufstehen“ sollte keine Partei werden, sondern eine „Sammlungsbewegung“ zur Herstellung einer linken Mehrheit. Wollte, so hieß es, Menschen mobilisieren, die „etwas anderes wollen als das, was zur Zeit im Angebot“ ist. Wollte „das Internet und die Straße erobern (…), durch populäre Kampagnen die Politik aufrütteln“, so heißt es im Gründungsaufruf. Aber dann entstanden ortsvereins­ähnliche Zirkel, die alsbald für wirklich alles „kämpfen“ wollten, von Arbeitsplätzen und Artenvielfalt bis zumutbaren Mieten. 160.000 Unzufriedene aller Lager – eine Art Parallelpartei im machtfernen Raum.

Die wahre Linke gegen die Partei-Eliten, die Straße gegen die da oben, Sozialstaatskonsumenten gegen die defizienten Angebote der Politikfirmen – in all dem steckt ein kategorialer Fehler. Denn wir leben nicht mehr im Feudalismus, nicht im Spätstalinismus und auch nicht in einem politischen Warenhaus. Sondern in einer repräsentativen Demokratie.

Natürlich muss man kein völkischer Populist sein und auch kein Klassenkampfdogmatiker, um die Repräsentativität dieser Demokratie für reparaturbedürftig zu halten. Ein wenig politische Arithmetik: Von rund 60 Millionen Wahlberechtigten sind eine Million Mitglieder einer Partei. Von dieser Million zählen etwa zwanzig Prozent zu den – so nennen es die Parteienforscher – „ämterorientierten Aktiven“. Diese zweihunderttausend entscheiden, wer in den Parlamenten sitzt. Aus dem Netzwerk dieser zweihunderttausend rekrutieren sich Direktoren kommunaler Unternehmen, von Kranken- und Sparkassen, Intendanten aller Art, Rundfunkräte und so weiter und so fort. Das politische Rückgrat der Republik: zweihunderttausend von achtzig Millionen.

Die Politische Soziologie redet deshalb schon lange von Postdemokratie und Kartellparteien. Und war es nicht ein Bundespräsident namens Richard von Weizsäcker, der vor mehr als zwei Jahrzehnten schon davon sprach, dass die Parteien „machtversessen“ und „machtvergessen“ seien? Dass die Partei-Oligarchen „allein darüber befinden, wer für ein politisches Amt kandidieren darf“?

Die Gesellschaft hat ihre Erwartungen delegiert, statt die Politik als ihre ureigene Lebensform zu verinnerlichen

Mit Parteienschelte machen wir uns dümmer, als wir sind. Seit Michels, Canetti, Weber & Co. können wir wissen, dass Parteien immer von Bürokratie bedroht sind, von der unvermeidlichen Ermüdung der Aktivisten, von Klientelwesen und Elitengeklüngel. „Die immer selben Wellen branden gegen das immer gleiche Gestade der Oligarchien“ – so schrieb es Robert Michels vor hundert Jahren in seiner Parteientheorie. Politik ist Verschleiß. Die Zukunftsbaustellen Klima, Pflegenotstand, Völkerwanderung, IT-Revolution sind nicht durch das Drehen an kleinen Rädern zu bewältigen; sie erfordern strukturelle Veränderungen. Aber die Kapitulation vorm beharrenden Mainstream und die Dramaturgie des politischen Wettbewerbs klammern (und das nicht nur in Zeiten großer Koalitionen) die großen Fragen aus: Wegen der (vermeintlichen) Stimmenverluste, die mit „Zumutungen“ verbunden sind, stellen die Parteien die entscheidenden Herausforderungen nicht einmal ernsthaft zur Diskussion.

Straße und Internet werden nicht reichen, um das zu ändern. Was dann? Er sei gegen die plebiszitäre Demokratie, sagte kürzlich Wolfgang Schäuble: denn das Volk sei „leicht manipulierbar und verführbar“, während die Abgeordneten „ein hohes Maß an Verantwortung hätten, gut informiert seien, und lange diskutierten, bevor sie entscheiden“. Dieser Honoratiorenkonservatismus ist lachhaft und zynisch und geht am real existierenden Parlamentarismus vorbei. Aber es stimmt: Plebiszite sind kein Ausweg aus der Krise des Parlamentarismus, schon deshalb, weil die komplexen Probleme der Zukunftssicherung kaum auf Ja oder Nein abzubilden sind (siehe Brexit).

Ohne Parteien, die Meinungen bündeln, kann man sich eine moderne Demokratie nicht vorstellen. Aber die medialen Konjunkturen von Heils­erwartung und regelmäßiger Enttäuschung zeigen vor allem eines: Die Gesellschaft hat ihre Erwartungen und Kräfte delegiert, statt die Politik als ihre ureigene Lebensform zu verinnerlichen.

Die 700 Abgeordneten des Bundestags sind nicht repräsentativ für zwei Drittel der Bürger, die ein Bewusstsein von der Notwendigkeit einschneidender Änderungen haben – auch wenn sie keine Lösungen erarbeiten können. Linke Politik muss die Wette darauf eingehen, dass Aufklärung über die Zusammenhänge von Globalisierung und Klima, Kapitalismus und Armut, Wohlstandsmauern und Terrorismus den denkenden Teil der Bevölkerung schon lange erreicht hat. Linke Politik darf nicht weniger fordern, als die Analyse erfordert. Linke Kritik, die den Parlamentarismus instand setzen, die emotionalen und intellektuellen Ressourcen der Bürger in Machtgewinn umsetzen will, sollte ihre Kraft für eine Änderung des Parteiengesetzes einsetzen: um die Selbstabschließungstendenz der politischen Klasse aufzulockern, die oligarchischen Parteistrukturen und den Fraktionszwang abzumildern. So könne man, um nur einige Möglichkeiten zu nennen, mit Vorwahlen den Bürgern mehr Rechte bei der Kandidatenauswahl für die Parlamente geben, Öffnungen für Quereinstiege schaffen, die Mandatsdauern begrenzen, das Gewicht der Landeslisten moderieren, die Macht der Basis stärken, das Wahlalter herabsetzen.

Die Schlagloch-Vorschau:

3. 4., Nora Bossong

10. 4., Georg Seeßlen

17. 4., Ilija Trojanow

24. 4., Jagoda Marinić

8. 5., Charlotte Wiedemann

15. 5., Hilal Sezgin

Veränderungen des Parteiengesetzes bedürften nicht einmal einer Verfassungsänderung. Unwahrscheinlich sind sie dennoch. Deshalb gilt bis auf Weiteres der Satz von Al Gore: Sagen Sie ihrem Abgeordneten, was er tun soll; sagen Sie es so laut, dass er es hört; wenn er es dennoch nicht tut, wählen Sie ihn ab, und wenn der nächste es auch nicht tut, dann kandidieren Sie selbst. Absurd? Genauso absurd wie die Relation von 160.000 zu 200.000.