Politik, die
verbotene Frucht

Viele junge Syrer entdecken in Deutschland das politische Engagement für sich neu. Nur fühlen sie sich damit oft nicht ernst genommen

Amin Maghrebi bei der Demo für ein freies Syrien am Samstag Foto: Sara Ali

Amin Maghrebi ist 16 Jahre alt, als er 2015 aus Syrien nach Deutschland kommt. Er ist froh, endlich sicheren Boden unter den Füßen zu haben. Mit aller Kraft versucht er, sich zu integrieren und zu engagieren – gegen den Rechtsruck, für die Demokratie und Geflüchtete. Er hat lange versucht, keine Nachrichten aus seinem zerstörten Zuhause zu hören. Um seinen Schmerz zu verbergen, zog er eine Schutzmauer um sich.

Vergangenen Samstag demonstriert er in Berlin für ein freies Syrien. „Ich wollte nichts mehr mit Syrien zu tun haben. Und jetzt? Stehe ich hier, statt für mein Abitur zu lernen.“ Er lacht. Sein Engagement begann im August, als Umweltaktivisten eine Petition schrieben: „Kein Plastikmüll im Meer!“ Gleichzeitig gab das Assad-Regime den Tod von Tausenden Häftlingen bekannt. „Wie soll ich die Schreie dieser Gequälten ignorieren?“ Klimaschutz findet er wichtig. Aber er kann nicht gegen Müll im Meer demonstrieren, wenn Menschen in seiner Heimat wie Müll entsorgt werden. Maghrebi ist Syrien körperlich entkommen, geistig nicht. Seine Schutzmauer bröckelt.

Viele junge Syrer entdecken in Deutschland die Politik für sich. Manche haben schon in Syrien für die Demokratie gekämpft. Andere, wie Maghrebi, finden erst jetzt dazu. Ein Blick in die syrische Community zeigt, dass das politische Interesse vieler zunimmt: Sie gründen Initiativen, engagieren sich oder studieren Politik. In Syrien ist politisches Engagement ein Tabu, Opposition gilt als Verrat. Um Politik zu studieren, muss man aktives Mitglied in der einzigen Partei, der Albaath-Partei, sein. In Deutschland hingegen sind die jungen Syrer von diesen Fesseln befreit, von Zensur und den 15 Geheimdiensten, die ihre Seele demütigen und die Würde rauben können. In Deutschland können sie an der verbotenen Frucht beißen: der Politik.

Sein Beitrag

Samer Alnajjar ist 25 und war in der Revolution in Syrien aktiv. Jetzt studiert er Germanistik und Politik in Düsseldorf, ist SPD-Mitglied. Mit Freunden hat er das Projekt „StillThere“ gegründet. In drei Sprachen klärt er im Internet über das Leben in der Diktatur auf. „Das ist mein Beitrag dafür, dass ich hier Demokratie und Freiheit genieße.“

Amin Maghrebi sagt, er habe durch sein Engagement in Deutschland gelernt, „den Mund aufzumachen“. Er hat sich „4syrebellion“ angeschlossen, einer Gruppe in Berlin, die für Menschenrechte in Syrien kämpft.

Auch Sophie Bischoff von „adopt a revolution“, einer Organisation, die syrische Aktivisten unterstützt, beobachtet, dass immer mehr Syrer sich in Deutschland politisch engagieren. Allerdings nehme das die Mehrheitsgesellschaft kaum wahr: „Es gibt die Tendenz, diese Menschen nicht als politische Objekte zu betrachten. Man verlangt: Pass dich hier an und sei froh!“ Es sei einfacher, Geld und Unterstützung für Projekte zu bekommen, die in das typische Flüchtlingsbild passen, als für solche, die politisches Empowerment befördern, so Bischoff.

Niemand möchte ständig „Opfer“ sein. Das hat schon Hannah Arendt in ihrem berühmten Essay „Wir Flüchtlinge“ 1943 beschrieben. Geändert hat sich seitdem wenig. Manche Syrer beschreiben das mit dem arabischen Spruch: „Du hast den Mund zum Essen, aber nicht zum Sprechen“.

Amin Maghrebi sagt: „Je besser ich Deutsch verstehe, desto schockierter bin ich, wie wenig die Deutschen über uns wissen.“ Er will sich damit nicht abfinden. In der Schule, wo er Abitur macht, zeigt er Filme über die politische Situation in Syrien. Das wärme seine Seele und stärke die Beziehung zu seinen deutschen Freunden, die mit großen Augen zusehen. Sara Ali