Oper ist eine Krankheit

Eine Komödie in Therapie: „Die Verlobung im Kloster“ von Sergei Prokofjew an der Berliner Staatsoper

Die Vornamen der Sängerinnen und Sänger sind auf der Bühnenrückwand zu lesen. Sie alle sind im Leben gescheitert, weil sie süchtig nach Opern sind Foto: Ruth und Martin Walz

Von Niklaus Hablützel

Wenn Dmitri Tcherniakov Opern inszeniert, ist das Ergebnis nie vorherzusagen. In der Berliner Staatsoper ist er oft zu Gast. Mussorgskis Boris Godunow spielte 2012 in den Ruinen der Sowjetunion, Rimski-Korsakows Zarenbraut 2013 im digitalen Studio des Staatsfernsehens. Wagners Parsifal verirrte sich 2015 im sibirischen Niemandsland, 2018 hatten russische Oligarchen ein Drogenproblem mit ihrem Tristan und seiner Isolde. Es sah immer anders aus als erwartet und war immer konsequent zu Ende geführt. Tchernia­kov möchte keine Handlungen erzählen, er denkt sich Konzepte aus, die bekannten Werken der Vergangenheit jeweils neue, individuelle Gesichter geben.

Besonders radikal hat er jetzt Prokofjews selten gespielte komische Oper „Die Verlobung im Kloster“ behandelt, 1941 entstanden, des Krieges wegen aber erst 1946 in Leningrad uraufgeführt. Das Libretto beruht auf dem Singspiel „The Duenna“ des Iren Richard Sheridan, 1775 in London uraufgeführt. Gleich drei Liebespaare müssen mal wieder durch endlose Täuschungen, Intrigen und Verwechslungen hindurch zueinanderfinden. Sie heiraten am Ende in einem Kloster, ein bestochener und besoffener Abt gibt den Segen.

Bei Tcherniakov jedoch sind alle von Anfang in einen Raum eingesperrt, der im 18. Jahrhundert vielleicht ein Kloster gewesen wäre. Heute ist er das Behandlungszimmer der „Gemeinschaft anonymer Opern-Abhängiger“. So steht es auf dem Vorhang, der die Bühne zunächst verschließt. Er geht hoch, und zu sehen ist ein Raum, der genau so aussieht: trostlos in schreiend orangefarbenem Neonlicht, möbliert mit unordentlichen Reihen ausrangierter Original-Sessel der Staatsoper. Das Orchester beginnt mit der Ouvertüre, und der Therapeut stellt die drei Frauen und fünf Männer vor, die heute in die Selbsthilfegruppe gekommen sind. Es sind Stephan Rügamer, Andrey Zhilikhowsky, Aida Garifullina, Violetta Urmana, Bogdan Volkov, Anna Goryachova, Goran Juric und Lauri Vasar. Nur ihre Vornamen sind auf der Bühnenrückwand zu lesen, dazu eine kurze Beschreibung ihres Falles. Sie alle sind in ihrem Leben gescheitert, weil sie süchtig nach Opern sind.

Die Suchtdiagnose mag zutreffen, das Scheitern jedoch nicht. Es sind die wirklichen Namen der Sängerinnen und Sänger dieser Premiere, die am Sonntagabend ausnahmslos mit wundervollen Stimmen ihre musikalischen Rollen vollendet ausgestaltet haben. Oft sind es große, lyrische Arien, dann wieder zugespitzte Ensembleszenen, die manchmal sogar Sprechgesang in unbestimmter Tonhöhe erfordern.

Prokofjews Musik ist ein Kaleidoskop von Stilen. Mozart’sche Klassik, italienischer Belcanto und russische Romantik klingen mit. Sie verschmelzen zu einem pulsierenden Strom, in dem alles vertraut und fremd zugleich klingt. Die Harmonien sind tonal und dann doch falsch, es kommt zu krassen Dissonanzen und Instrumentalfarben. Daniel Barenboim folgt dieser absolut originellen Diktion bis in ihre subtilsten Facetten hinein, ohne sich darin zu verlieren. So entsteht ein sehr unterhaltsames, perlend leichtes und präzise artikuliertes Meisterwerk, vom dem man sich nur wundern kann, warum es nicht ständig auf den Spielplänen der Welt steht.

Kopfschütteln der Premierengäste auf den engen Treppen des im Stil des DDR-Barocks schrecklich restaurierten Hauses

Tcherniakov weiß, warum. Die sind alle komplett irre. Tatsächlich ist die literarische Vorlage eine ins Absurde getriebene Sammlung sämtlicher Versatzstücke der damaligen Komödie. Alles ist da, der Brief, der Alte, der Geldsack, die Amme, die Gräfin, die Schöne, der Arme, die Masken und alles so durcheinandergewirbelt, dass es vermutlich noch nie möglich war, den Überblick zu behalten. Gerade das kann vergnüglich sein, wie der nachhaltige Erfolg des Urtextes im späten 18. Jahrhundert beweist. Bei Tcherniakov haben sogar die Bühnenfiguren selbst keine Ahnung mehr, was sie gerade spielen. Sie müssen ständig lachen über das Zeug, das sie mit so viel Gefühl singen sollen.

Das ist heilsam, weil sie davon loskommen wollen, ruiniert aber die Spannung des Dramas. Es gibt keine Fallhöhen mehr. Stattdessen sehen wir dreieinhalb Stunden lang einer Therapiesitzung zu, in der absolut nichts passieren darf, wenn sie gut ausgehen soll. Das ist vor allem langweilig, doch Tcherniakov könnte trotzdem recht haben mit seiner Diagnose. Oper ist vielleicht gar keine Kunst, sondern eine Krankheit. Und zwar eine unheilbare, wie ihre inzwischen ein paar hundert Jahre lange Geschichte zeigt.

Kopfschütteln der Premieren­gäste auf den engen Treppen des im Stil des DDR-Barocks schrecklich restaurierten Hauses. Der Applaus war trotzdem freundlich. Er galt vor allem Daniel Barenboim. Ein langer Text des Onlinemagazins VAN beschreibt ihn als einen tragischen alten Mann, gefangen im patriarchalen System des Operngeschäfts. Ein großer Musiker, aber auch ein Irrer in seiner Art, jähzornig, sogar gewalttätig und von Gefühlen der Allmacht besessen. Er hat am Ende Tcherniakov bei der Hand genommen, um dieses Mal mit seinem Regisseur zusammen an die Rampe zu treten. Das geschieht sonst nie. Oper ist nicht heilbar, meint wohl auch er, der vom Erfolg verwöhnt ist. Es war danach sehr kalt auf dem leeren Bebelplatz.