Zwei Maler, zwei Ideen, ein Bild: Ein Zoom aus der Ferne

„Die Darbringung Christi im Tempel“ stammt von Mantegna, Bellini pauste das Bild ab. Beide sind in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen.

Maria präsentiert ihr Baby Jesus dem Weisen Simeon. Derzeit ist das Bild Andrea Mantegnas in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen.

Andrea Mantegnas „Darbringung Christi im Tempel“ (Ausschnitt) entstand um das Jahr 1453 Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie/Christoph Schmidt

Als Maria und Josef den neugeborenen Jesus in den Jerusalemer Tempel brachten, möglicherweise um das Kind beschneiden zu lassen, hatten sie laut Lukasevangelium (2,21–39) ein Taubenpaar als Opfergabe dabei. Aber weder das Tieropfer noch Details des Altars oder des Tempels sind in dem dichten Bild Andrea Mantegnas zu sehen. Mantegna, der als Sohn eines Zimmermanns vermutlich 1431 in der Nähe von Padua geboren wurde und 1506 in Mantua als gefeierter Hofmaler der Gonzaga starb, hatte die damals herrschenden malerischen Konventionen für seine Interpretation des religiösen Themas hinter sich gelassen.

Wie jeder Künstler in Padua dürfte Mantegna das Fresko Giottos gekannt haben, das gemäß den damaligen darstellerischen Normen ebenfalls „Die Darbringung Christi im Tempel“ zeigt. Giotto stellte um 1303 die heilige Szene in der Scrovegni-Kapelle mit vielen Protagonisten innerhalb einer architektonischen Komposition dar. Mantegna hingegen schnitt seine Figuren ab der Hüfte ab, drängte sie auf einem engen, durch einen gemalten Marmorrahmen begrenzten Raum vor dunklem Hintergrund wie in einem Zoom zusammen.

Und obwohl Mantegna dafür bekannt war, als einer der ersten Renaissancekünstler die Technik der perspektivischen Verkürzung von Räumen und Körpern virtuos zu beherrschen, lässt die dichte Konzentration der Gruppe die Bildebene fast zweidimensional erscheinen. Im Vordergrund seines 1454 entstandenen Gemäldes ist Simeon als Weiser in feierlicher Haltung und mit würdigem Gesichtsausdruck zu sehen. Sorgfältig und fein gemalt, jedes einzelne seiner Barthaare ist mit dünnen Linien aus Eitempera dargestellt, ergreift Simeon die Füße von Jesus, in dem er laut Lukas den Messias erkannt hatte.

Die zärtlich abgebildete Geste der betrübten Mutter, an deren bleiches Profil sich die Silhouette des Babys wie ein Puzzlestück schmiegt, verweist auf die Ambiguität der mütterlichen Sorge um das Kind und die Anerkennung (oder Ablehnung) seiner zukünftigen Rolle. Anders als die Maria Giottos scheint sie das Kind mit beiden Armen von Simeon wegzuziehen, als ob sie Jesus in seiner leiblichen Dimension bei sich behalten und vor seinem Schicksal retten wollte.

Das Gemalte ist die Leinwand

Das Baby weint. Vielleicht aus Angst, seiner Mutter entwunden zu werden, vielleicht in Vorausschau seines Leidens am Kreuz. Semitransparente Streifen weißen Leinens scheinen das Kind wie ein Verband zu umwickeln, ein fesselndes Bilddetail, das die Tücher mit der Leinwand gleichzusetzen scheint, auf der sie gemalt sind.

Die Berliner Gemäldegalerie beherbergt eine der bedeutendsten Sammlungen euro­päischer Malerei vom 13. bis 18. Jahrhundert. In der taz-Serie „Alte Meister“ stellt die Künst­lerin und Autorin Tal Sterngast einzelne Werke aus der Sammlung vor.

„Mantegna und Bellini. Meister der Renaissance“ ist bis 30. Juni 2019 in der Gemäldegalerie zu sehen.

Die Leinwand wird durch weggeschabte Farbe bloßgelegt und leiht ihr gewebtes Raster der Darstellung der Textur des Wickeltuchs, das einem Leichentuch ähnelt. So ähnlich ist es bei „Madonna und Kind“, einem anderen in Berlin hängenden Bild Mantegnas. Ob gewollt oder nicht, manifestiert die Leinwand ihre eigene Präsenz, das Bild ist Abbildung und Objekt zugleich. Das Marmorfenster, in dem sich die Szene abspielt, könnte auf Jesu Grab vorausweisen.

Ein erfinderischer Künstler

Mantegnas Bild wird derzeit von einem Doppelgänger begleitet. Eine etwas größere und kompositorisch verlängerte Version der „Darbringung“ von Bellini, die sonst in der Fondazione Querini Stampalia in Venedig ausgestellt wird, hängt direkt neben Mantegnas Bild für die Dauer der Ausstellung „Mantegna und Bellini. Meister der Renaissance“. Das ist nicht nur eine historische Gegenüberstellung, sondern eine Befreiung.

Denn damit wird Mantegnas zarte „Darbringung“ von ihrem permanenten Hängungsort tief im Südflügel erlöst, wo die filigranen Details des schon etwas verblichenen, stellenweise übermalten Gemäldes auch durch die Beleuchtung eher verborgen als präsentiert werden. Nun, ­adäquat beleuchtet, kann man sich leicht vorstellen, welch strahlenden, verdichteten Effekt es einmal gehabt haben muss.

Die Paarung der Bilder

Bis 2018 waren die beiden Gemälde noch nie zusammen zu sehen. Nun hängen sie am Eingang der so gelehrten wie imposanten und einfühlsamen Sonderausstellung, die in Zusammenarbeit mit der Londoner National Gallery kuratiert wurde. Sie zeigt Arbeiten der beiden Meister der frühen Renaissance, die aus Sammlungen in der ganzen Welt stammen. Die Paarung dieser beiden Bilder zeigt, was die Ausstellung als Ganze akribisch verfolgt: wie intensiv der jeweilige Einfluss der beiden auf das Werk des anderen war und wie stark sich ihre Arbeitsweisen und künstlerischen Programme unterschieden.

Darüber hinaus demons­triert die Schau die Dichotomien, mittels deren die beiden Künstler in einem ewigen Wettbewerb darum, wer denn nun der Bessere gewesen sei, über Jahrhunderte hinweg kategorisiert wurden. Es zeigt sich, dass die angeblichen Gegensätze, die die konkurrierenden Werke charakterisieren, nicht zu erfassen vermögen, was es hieß, im 15. Jahrhundert ein maßgeblicher und erfinderischer Künstler zu sein.

Die Malerei triumphiert über das Wort

Im Jahr 1504 schrieb ein venezianischer Kunsthändler an Isabella d’Este, die Mäzenin beider Maler war: „Niemand kann Herrn Andrea Mantegna in Hinblick auf seinen Erfindungsreichtum schlagen, wo er höchste Exzellenz erreicht hat, aber wenn es um Farbe geht, ist Giovanni Bellini vortrefflich.“

Der Vater des Malers Raffael war selbst Hofmaler des Herzogs von Urbino, der seinerseits der wichtigste Mäzen Piero de la Francescas war. Laut der Aussage von Raffaels Vater sei der Herzog angesichts von Mante­gnas Bildern „stupefatto“, sprachlos, gewesen. Damit implizierte er nicht nur, dass Mantegna der größte aller italienischen Maler inklusive Piero de la Francesca war, sondern dass in seinem Werk die Malerei über das Wort triumphiert.

Von innen beleuchtet

Der Kunsthistoriker Roberto Longhi schließlich ging Anfang des 20. Jahrhunderts so weit, die Geburt Bellinis, des in Wirklichkeit jüngeren Schwagers Mantegnas, zehn Jahre vorzuverlegen, um Bellini als den originelleren Maler von beiden zu installieren – gegen den herrschenden Konsens. Über Jahrhunderte hinweg wurden die beiden so ähnlichen und doch inhärent verschiedenen Versionen der „Darbringung Christi“ oft Mantegna zugeschrieben. Heute wissen wir nicht nur, dass Bellini sein Bild gut zwanzig Jahre nach Mantegna gemalt hat, sondern auch, wie man im Zug der Vorbereitung dieser Ausstellung he­raus­gefunden hat, dass Bellini das Werk seines Schwagers abgepaust hat.

In seinem Bild fügte Bellini zwei weitere Personen hinzu und entkleidete seine Protagonisten der feinen Heiligenscheine, die in Mantegnas Bild als Ikonenreste über den Köpfen der Heiligen schweben. Aus Mantegnas Rahmen wurde eine Brüstung. Das Bild scheint von innen beleuchtet zu sein und ist etwas lieblicher, als ob es mit einem sanfteren Pinsel gemalt worden sei. Es ist harmo­nischer, seine Figuren erscheinen weniger drastisch. Mantegna malte mit Eitempera auf Leinwand, Bellini mit Öl auf Holz­tafel. ­Bellini war einer der Ersten in Italien, die die neue Technik, die jenseits der Alpen entwickelt worden war, übernahmen.

Favorit der intellektuellen Elite

In der zweiten Reihe der Gruppe auf Mantegnas Bild erstrahlt der Kopf Josefs, der stirnrunzelnd und mit Ehrfurcht auf Simeon blickt. Zwei Figuren ohne Heiligenschein sind auf den Seiten zu sehen: eine junge Frau zur Linken, vermutlich stellt sie Mantegnas Frau dar, und ein junger Mann zur Rechten, der halb vom Rahmen verdeckt wird. Er starrt abwesend in den Bildraum. Er wurde spätestens seit dem 19. Jahrhundert mit Mantegna selbst identifiziert.

Mantegna war 23 oder 24 Jahre alt, als er 1454 „Die Darbringung Christi“ malte. Er war damals bereits der berühmteste Künstler Norditaliens, Favorit der intellektuellen Elite. Vermutlich malte er das Bild anlässlich seiner Vermählung mit Nicolosia und der Geburt ihres Sohns im Jahr der Entstehung des Gemäldes. Sosehr das Bild die Idee des Opfers in einer Darstellung fasst, die an Andachtsbilder erinnert, schimmern in ihm doch auch eine gewisse Intimität und Nähe auf. Es wurde wahrscheinlich für die Familie gemalt.

Nicolosia, Mantegnas Frau, war Giovanni Bellinis Halbschwester, die Tochter von Jacopo, dem Pater familias der erfolgreichsten Künstlerfamilie Venedigs. Jacopo mag geplant haben, das Wunderkind Mantegna als kostenlosen Mitarbeiter seiner Werkstatt gewinnen zu können, aber dieser hatte andere Pläne. Im Jahr 1459 wurde Mantegna der Hofmaler der Herzöge von Mantua, wohin er mit seiner Familie zog und wo er bis zu seinem Tod arbeitete.

Wie mit dem Teleobjektiv herangeholt

Der Effekt des Bildes ist dual. Dem Prinzip der autorlosen Ikone folgend, von der Mantegna wahrscheinlich die Beschreibung seiner Figuren in einer Art Nahaufnahme entliehen hat, die zugleich intim und streng formal ist, bleibt uns sein Bild fern und ist zugleich seltsam innig. Wie bei einem mit Teleobjektiv aufgenommenem Foto erscheint der Bildraum komprimiert. Das Geschehen in der Ferne wird uns näher gebracht, wir sehen seine Einzelheiten und beobachten die Szene doch weiterhin aus der Distanz.

Auch der Marmorrahmen, aus dem die als Malerei gekennzeichneten Figuren in die Welt des Betrachters herauszutreten scheinen, definiert die Grenze des Bildes auf erfinderische Weise. Das gilt besonders für das Jesuskind, das, auf einem Kissen stehend, gehalten wird und auf dem Marmorrahmen ruht – wie Marias Ellbogen, der auf den Betrachter zeigt. Ein Trompe-l’Œil, das den Betrachter einerseits ins Bild hineinzieht, andererseits die Grenzen des Bildes in die Realität hinaus verschiebt.

Das Elend der fleischlichen Existenz

„In seinem Leben zeigt sich Mantegna beinahe mehr als Humanist denn als Künstler“, schrieb Roger Fry im Jahr 1905. „Wir hören von ihm fast nur, dass er ein kranker Nachbar, ein unglücklicher Vater, ein indiskreter, gealterter Liebhaber sei.“ Insofern sei bemerkenswert, dass dieser stolze, streitsüchtige und ehrgeizige Mann die zärtlichsten Bilder von der Madonna und ihrem Kind in der christlichen Kunst gemalt habe.

Ohne darauf zu verzichten, in einem peniblen Realismus die Erniedrigung, ja das Elend der fleischlichen Existenz kenntlich zu machen, zeigt sich in seiner Madonna und ihrem Kind ein Rätsel. Sie leben ein Leben, dessen Gefühle uns unbekannt sind, intensiver, aber auch zu unruhig, um heiter oder göttlich zu sein. Es ist ein Realismus, der anders als der flämische, der Mantegna sicher beeinflusst hat, unerwartet mystisch ist.

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