Nachruf für Hans-Joachim Lenger: Denker in steter Unruhe

Geprägt von 1968 und Poststrukturalismus: Der Hamburger Philosoph und Kunsttheorie-Professor Hans-Joachim Lenger ist verstorben.

Nahm Marx als Ausgangspunkt für unermüdliche Dekonstruktionsarbeit: Hans-Joachim Lenger Foto: Imke Sommer

HAMBURG taz | Dass der Kapitalismus den Horizont seiner eigenen Zukunft längst hinter sich gelassen hat, wurde von Hans-Joachim Lenger, Philosoph, Autor und Professor für Theorie und Geschichte an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HfbK), niemals in Zweifel gezogen. In immer neuen sprachlichen Wendungen stellte er einer aus den Fugen geratenen politischen Gegenwart ihre niederschmetternde Diagnose und hob sich dabei deutlich von einer um sich greifenden, durch gängige Floskeln geprägten und entschärfenden Kapitalismuskritik ab.

Lengers Rede legte ökonomische und semiotische Aporien im Aktuellen frei, deren Spuren bis weit in die Geschichte der Philosophie zurückreichen. Als vermeintlicher Vordenker einer in die Jahre gekommenen politischen Linken wollte er dabei gewiss nicht gelten.

Gedenkfeier für Hans-Joachim Lenger u. a. mit einem Vortrag von Jean-Luc Nancy: Mi, 24. 4., 18 Uhr, Aula der HfbK, Lerchenfeld 2, Hamburg

https://www.hfbk-hamburg.de/de/aktuelles/termine/unendliche-insistenz-endlicher/

Kommt die politische Revolte doch – wie er noch in seinem letzten Vortrag an der HfbK im November 2018 betonte – insofern stets „zu früh“, als dass sie sich einer konzeptionellen Vorwegnahme entzieht: „Verfrüht, wie es ist“, so Lenger, „lässt sich das revolutionäre Ereignis […] weder planen noch inszenieren. Es untersteht keiner Kontrolle, es folgt keinem Kalkül, es lässt sich von keinem Plan evozieren, und stets überrascht es selbst die Revolutionäre, die auf es hinarbeiten. Wo es eintritt, da ereignet es sich von selbst, sponte.“

Keine Nostalgie!

Lengers philosophische Schriften und seine Praxis als Hochschullehrer waren durch die politischen Ereignisse des Mai 1968 geprägt, deren theoretische Reflexion er immer wieder gegen ihre eigenen Voraussetzungen kehrte, um nicht in einer nostalgischen Musealisierung vergangener Zeiten hängen zu bleiben.

Neben Jacques Derrida und Martin Heidegger galt ihm hierbei besonders Jean-Luc Nancy als philosophischer Stichwortgeber, mit dem Lenger das Vorhaben teilte, das Erbe des Marxismus als Ausgangspunkt einer unermüdlichen begrifflichen Dekonstruktionsarbeit anzunehmen. „Marx zufolge. Die unmögliche Revolution lautet dementsprechend der Titel von Lengers 2004 im Transcript-Verlag erschienenen philosophischen Hauptwerk – ein Titel, der seinem gesamten Denken als Motto vorangestellt werden kann.

Lenger zog aus den eigenen Erfahrungen während der Studentenrevolte die Konsequenz, das philosophisches Denken als politisch-ästhetische Praxis aufzufassen und ein Fragen nach den ereignishaften Beziehungen von Kunst und Politik affirmativ voranzutreiben. Eine erste Bilanz zog in dieser Hinsicht die in den 1980er-Jahren an der HfbK erschienene Zeitschrift Spuren, die Lenger sowohl konzeptionell als auch redaktionell entscheidend prägte.

Beeindruckendes Experimentierfeld

Über knapp zehn Jahre wurden hier Beiträge von Autorinnen und Autoren versammelt, die sich unter anderem als Versuch zeigten, „Ästhetik“ und „Aisthesis“, eine Theorie der Kunst und eine solche der sinnlichen Wahrnehmung aufeinander zu öffnen. Auf diese Weise entstand ein Experimentierfeld verschiedener intellektueller Schwerpunktsetzungen und Schreibweisen, deren Vielfalt bis heute beeindruckt.

Das Archiv der Zeitschrift, online verfügbar, legt nicht zuletzt ein Zeugnis von Lengers Fähigkeit ab, ein offenes Milieu des Denkens einzurichten, in dem sich der Diskurs spontan und unreglementiert entfalten kann. In den vergangenen Jahren führte er diesen Anspruch in dem von ihm initiierten Rundfunkprojekt „Agoradio“ weiter, das eine vielschichtige Theorieproduktion mit künstlerischen Montagetechniken verband.

Auch seine Lehrtätigkeit an der HfbK war von einer Überlagerung künstlerischer, philosophischer und politischer Fragestellungen bestimmt und dabei stets darauf bedacht, deren innere Spannung nicht zugunsten des einen oder anderen Aspekts aufzulösen. Das Denken wurde von Lenger auf diese Weise immer in Unruhe gehalten. Seit Beginn der 1980er-Jahre hat er die Studierenden der HfbK zu einer kritischen Reflektion der eigenen künstlerischen Praxis verführt.

Virulente Leerstelle

Hans-Joachim Lenger starb unerwartet am 25. Februar im Alter von 67 Jahren in Hamburg. Die Leerstelle, die sein Tod hinterlässt, wird nicht zuletzt in der Frage virulent werden, wie sich die Ereignishaftigkeit des Politischen in Zukunft philosophisch konzipieren lässt. Ist doch hier plötzlich eine Denkbewegung abgerissen, die ihre Kraft stets aus der Konzentration auf das Zukommende und aktuell Bevorstehende gewonnen hat.

Hans-Joachim Lengers Werk bleibt zu entdecken und wiederzuentdecken. Es ist Ausdruck eines schon jetzt schmerzlich vermissten Gestus des philosophischen Denkens, das sich den politischen Verwerfungen der Gegenwart stets auf Neue als gewachsen gezeigt hat.

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