Nicht mehr erste Wahl

Es fehlt das Autobrummen, und „radikal“ ähnelt dem „Premium“ von Netto-Produkten: Eindrücke vom Ersten Mai in Kreuzberg 36

Die Stimmung ist unsympathisch. Nur ein bisschen. Also normal

Von Detlef Kuhlbrodt

Ich war erst am Dienstag, 30. ­April informiert worden, dass gleich am nächsten Tag Erster Mai ist. Eigentlich hatte ich gedacht, der berühmte Feiertag der Arbeiterklasse wäre erst am Wochenende. So ärgerte ich mich ein bisschen, weil ich noch flugs in den Supermarkt musste.

Die Zeiten, in denen man sich darüber wunderte, dass einem der Erste Mai in Kreuzberg nichts mehr bedeutet, sind schon lange vorüber. Obwohl man eigentlich ja doch immer hingegangen ist und interessante Erfahrungen gemacht hat. Manchmal hatte man z. B. Prominente, wie Christian Ströbele, Dieter Kunzelmann oder die Goldenen Zitronen gesehen oder war vor der Polizei weggelaufen. Der Erste Mai ist ja auch der einzige Feiertag, der gefühlsmäßig an einen Ort gebunden ist; zum Ersten Mai zu gehen heißt, zum Mariannenplatz zu gehen, gucken, was los ist, einen Joint zu rauchen, ein Bier zu trinken, irgendwas zu essen, und das war’s dann. Den Rest ­erfährt man dann aus den Medien.

Wirklich Lust, zum Ersten Mai zu gehen, hatte man diesmal eher nicht – der Erste Mai ist ein in die Jahre gekommenes Großereignis; die Polizeisirenen kann man sich auch auf dem Balkon anhören, aber man geht dann ja doch noch los am Nachmittag.

Die Gitschiner ist voll von Leuten. Sie wirken auch nicht anders als die Leute, die zu einem Fußballspiel gehen. Oder zu irgendeinem anderen Event. Gerade die jungen Männer haben oft komische Stimmen, wenn sie innerhalb ihrer Bezugsgruppe posieren. Irgendwie ist auch die Mischung auf den Straßen aus der Balance geraten. Es fehlt das Summen der Autos.

So gehe ich am Landwehrkanal entlang. Alles ist voll, aber fröhlich ist was anderes. Wirklich unangenehm ist die Stimmung auch nicht. Nur ein bisschen. Also normal. Am Böcklerpark ist eine Bühne aufgebaut; ich notiere: Der Mariannenplatz ist näher gekommen, und schreibe im Kopf einen Text, der die Dezentralisierungsmaßnahmen der Feierlichkeiten lobt, denn die Stimmung hier ist ganz sympathisch.

Früher wäre ich zuvor am Morgen noch zur DGB-Demo gegangen, doch früher ist gestern, und wann und wo die DGB-Demo stattfand, weiß ich auch nicht. So genau hatte ich mich auch nicht informiert. Nur gestern war G. vorbeigekommen und hatte gesagt, dieses Jahr wäre alles anders. Die „Revolutionäre 1. Mai-Demo“ ziehe durch Friedrichshain. Es gibt Meldungen über „Nazis“, die angeblich Jagd machen wollen auf Antifaschisten. Sie zeigt mir ihre Timeline. Vor ein paar Jahren, als sie noch neu in Berlin war, waren wir öfter auf dem Ersten Mai gewesen. Es war schön und ehrenvoll gewesen, mit den mexikanischen StudentInnen und ihren FreundInnen unterwegs zu sein und danach, noch festlich angedichtet, sich von GenderaktivistInnen die gendergerechte Sprache erklären zu lassen.

Linker Begriffskitsch

Diesmal hat sie keine Lust auf den Ersten Mai und will zu Hause bleiben. Die „Revolu­tio­näre 1. Mai-Demo“ startet ja auch fast vor ihrer Haustür. Ich finde es immer noch komisch, dass im Radio der Begriff „Revolutionäre 1. Mai-Demo“ verwendet wird, weil „linksradikal“ so unseriös klingt wie „Revolution“, also kitschig. Niemand weiß, was „linksradikal“ bedeuten soll. Das „radikal“ in diesem Sinne ähnelt dem „Premium“ auf irgendwelchen Produkten bei Netto, das bedeuten soll, dies Produkt sei erste Wahl. Links ist gut; radikal ist noch besser, weil radikal kommt von „Radix“ und Radix heißt Wurzel usw.

Die Leute, die später im Fernsehen über ihre Demonstrationsmotivation sprechen werden, reden aber eigentlich auch nicht anders als die protestierenden SchülerInnen vom Friday for Future: Wir sind jung, die Welt ist kaputt, so geht es nicht weiter und es muss etwas getan werden.

Später am Abend, zurück von meinen Erste-Mai-Abenteuern, gucke ich noch mal in meine Timeline; der Erste Mai ist da bereits kein Thema mehr.